Essen. In einem Mordprozess in Essen hat es 2020 hinter den Kulissen geknallt. Das Landgericht beantragt die Amtsenthebung des Schöffen - und verliert.
Am Essener Landgericht ist ein Streit zwischen zwei Schöffen und dem Vorsitzenden Richter der II. Strafkammer hinter den Kulissen des Gerichtssaales auf ungewöhnliche Weise eskaliert. Die beiden Schöffen fühlten sich zu "dekorativem Beiwerk" degradiert und erhoben eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei der Landgerichtspräsidentin.
Zeitgleich strengte das Landgericht Essen ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen der beiden Schöffen an - und erlitt Schiffbruch. Das Oberlandesgericht Hamm hat den Antrag des Landgerichts Ende vergangenen Jahres in allen Punkten zurückgewiesen.
Manfred Hermann (67) aus Essen, von Hause aus Diplom-Physiker, ist einer der betroffenen Laienrichter. In der Hauptverhandlung ging es im vergangenen Sommer an fünf Verhandlungstagen (16. Juli bis 28. August 2019) um die Mordanklage gegen einen Obdachlosen, der einer Passantin in Essen-Rüttenscheid mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen und sie lebensgefährlich verletzt hatte. Neben dem Vorsitzenden Richter vervollständigten zwei beisitzende (Berufs-)Richter die II. große Strafkammer.
"Wir fühlten uns wie dekoratives Beiwerk und wie dumme kleine Jungs"
Hermann und sein Mitschöffe erklärten am 4. September in einer schriftlichen Beschwerde an die Landgerichtspräsidentin, dass sie vom Richterkollegium "Kollegialität, Respekt und Kommunikation auf Augenhöhe" erwartet hätten. Doch stattdessen hätten sie Empörendes erlebt. "Wir fühlten uns wie dekoratives Beiwerk in einem schon feststehenden Ablauf." Und wie "dumme kleine Jungs ruhig und brav in der Ecke sitzen zu müssen".
An den fünf Verhandlungstagen seien Fragen der beiden Schöffen kategorisch und mitunter sogar "brüsk" abgewiesen worden. Vom Vorsitzenden Richter hatten die Schöffen den Eindruck, "dass er uns nicht für voll nimmt". Weiter heißt es in der Dienstaufsichtsbeschwerde, der Vorsitzende Richter habe sich gegenüber Hermann verhalten "im Stile eines Unteroffiziers auf dem Kasernenhof, der einen Rekruten zusammenstaucht".
Schöffen-Dachverband NRW tadelt Vorgehen des Landgerichts Essen: "Eine Frechheit"
Nur zehn Tage später wies die Landgerichtspräsidentin die Dienstaufsichtsbeschwerde der beiden Schöffen mit der Begründung zurück, es bestehe "kein Grund zu Maßnahmen der Dienstaufsicht". Sie verwies auf den "verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit" und auf § 240 der Strafprozessordnung, wonach der Vorsitzende den Schöffen "auf Verlangen" gestatten könne, Fragen zu stellen.
Manfred Haßdenteufel, NRW-Vorsitzender der "Deutschen Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen", widerspricht energisch. Der Vorsitzende Richter hätte die beiden ehrenamtlichen Richter in der Hauptverhandlung sehr wohl von sich aus zu Fragen auffordern sollen. Überhaupt bezeichnet der Verbandsvorsitzende den Umgang des Landgerichts Essen mit den Schöffen als "Frechheit" und insbesondere das Schreiben der Präsidentin vom 11. September 2020 als "arrogant". Dieser Essener Fall zeige, wie dringend notwendig eine Vertretung für ehrenamtliche Richterinnen und Richter, also eine Art Betriebsrat, innerhalb der Gerichte sei.
Amtsenthebungsverfahren gegen Schöffen sind selten in der Geschichte des Rechtswesens
Haßdenteufel, seit zwölf Jahren Vorstandsmitglied des Schöffen-Dachverbandes NRW, sagt über den Essener Schöffen-Streit: "In dieser Zeit ist mir so ein Fall noch nicht vorgekommen." Er wirft dem Landgericht Essen vor, den Laienrichter Hermann regelrecht gejagt zu haben. Gemeint ist das Amtsenthebungsverfahren - aus Haßdenteufels Sicht eine Retourkutsche.
Schon am 1. September 2019, nur wenige Tage nach der Abschlussberatung der II. großen Strafkammer, bei der es nach Hermanns Aussage zwischen den Schöffen und dem Vorsitzenden "so richtig geknallt" habe, beschloss das Landgericht zu beantragen, Hermann "seines Amtes als Schöffe beim Landgericht Essen zu entbinden".
Vorsitzender der II. Großen Strafkammer wirft Schöffen "gröbliche Amtspflichtverletzung" vor
Der Vorsitzende der II. Großen Strafkammer begründete dies mit angeblich "gröblicher Amtspflichtverletzung" und verwies auf "Äußerungen und Rechtsauffassungen", die der Essener Laienrichter im Internet verbreitet habe. Auf der Internetseite "Väternotruf" etwa habe der "Hilfsschöffe" Hermann "zum Teil rechtsfeindliche und unterschiedliche Organe des Rechtsstaats diffamierende Formulierungen und Texte veröffentlicht". Ferner verwies der Kammer-Vorsitzende auf einen Workshop des Schöffen unter dem Titel "Fiese Tricks von Anwälten und Richtern".
Oberlandesgericht Hamm: "Der Antrag ist als unbegründet zurückzuweisen"
Zwar schloss sich auch die Generalstaatsanwaltschaft Hamm Mitte September dem Amtsenthebungsverfahren an doch der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Hamm wies den Antrag des Essener Landgerichts am 18. November in Bausch und Bogen ab. In der mehrere Din-A4-Seiten langen Begründung heißt es: "Der Antrag ist als unbegründet zurückzuweisen, da nicht ersichtlich ist, dass der Hilfsschöffe seine Amtspflichten . . . gröblich verletzt hat."
So kommen Schöffen in die Gerichte
Schöffen werden auch ehrenamtliche Richter oder Laienrichter genannt. Bestimmt werden sie von den Kommunen, in Essen also per Beschluss der Stadtvertretung. In NRW gibt es rund 20.000 Schöffen.
Schöffen sprechen zusammen mit den Berufsrichtern Recht "im Namen des Volkes". Schöffen üben während einer Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit dem gleichen Stimmrecht aus wie Berufsrichter.
Besonders hoch ist der Bedarf bei den Amts- und Landgerichten, aber auch in Sozial-, Arbeits-, Handels- und Finanzgerichten sind Schöffen tätig. Interessenten für das Schöffenamt können sich bewerben. Die aktuelle Amtszeit hat 2019 begonnen und läuft bis 2023.