Essen. Die neue Diskussion um die Rüttenscheider Straße zeigt: Noch nie wurde so heftig über Sinn und Unsinn von Radwegen diskutiert. Was bringt das?

Noch nie wurde in Essen so viel über den Sinn und Zweck von Radwegen diskutiert wie jetzt. Prominentestes Beispiel: die Rüttenscheider Straße, die jetzt eine „Fahrradstraße“ ist – und Bürger stellen fest: Es hat sich gar nichts geändert. Gedränge, Stau und manchmal Chaos sind wie vorher. Klar, man konnte die Rüttenscheider ja auch nicht breiter machen, als sie ist. Der Platz, der da ist, wurde nur etwas anders aufgeteilt. Und vor allem wurden ein paar Regeln geändert.

Eine Achse aus Fahrradstraßen geht jetzt durch den Westen – von Frohnhausen über Holsterhausen bis ins Südviertel.
Eine Achse aus Fahrradstraßen geht jetzt durch den Westen – von Frohnhausen über Holsterhausen bis ins Südviertel. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Die neuesten Maßnahmen der Stadt der letzten Wochen – drei Achsen aus Fahrradstraßen quer durchs Stadtgebiet einzurichten – verschärfen die seit Jahren anhaltende Debatte übers Radfahren in Essen. Nur: Sie wird jetzt nicht länger mehrheitlich von Experten geführt oder politisch motivierten Überzeugungstätern, sondern von ganz normalen Leuten, die unter „Fahrradfahren“ weiterhin verstehen, dass man bei schönem Wetter mal am Kanal entlangrollt oder an der Ruhr.

Maßnahmen lösen auch Fragezeichen aus

Diese Bürger entdecken vor der Haustür plötzlich riesige „Fahrrad“-Piktogramme auf dem Asphalt, die gestern noch nicht da waren. Sie nehmen zur Kenntnis, dass Parkplätze verschwinden. Sie registrieren, dass sogar Bäume gefällt werden für Radwege – wie zuletzt geschehen an der Frankenstraße am Stadtwaldplatz. Das alles hinterlässt - mindestens - Fragezeichen bei jenen, die überrascht sind vom Tempo, mit dem die Maßnahmen durchgedrückt wurden. Der Eindruck drängt sich auf: Essen, die Stadt, die 1991 den Anti-Preis „Rostige Speiche“ bekam, will gleich morgen Münster oder Freiburg den Rang ablaufen in Sachen Fahrradfreundlichkeit.

Erst mal Güterbahn-Trassen ausbauen?

Ein Meilenstein: die Verbindung zwischen Grugatrasse und der Trasse „Rheinische Bahn“, hier ein Bild der Eröffnung im Jahr 2015.
Ein Meilenstein: die Verbindung zwischen Grugatrasse und der Trasse „Rheinische Bahn“, hier ein Bild der Eröffnung im Jahr 2015. © WAZ | STEFAN AREND

„Es ist alles eine Frage der Verhältnismäßigkeit“, sagt zum Beispiel Kai Hemsteeg, der Fraktionsvorsitzende des Essener Bürgerbündnisses (EBB). Seine Partei gehört mit der FDP mittlerweile zu den letzten, die sich kritisch über die aktuellen Maßnahmen zur Stärkung des Radverkehrs in Essen äußern. Seit Oberbürgermeister Thomas Kufen in aller Deutlichkeit erklärt hat, dass für den Radverkehr mehr als bisher getan werden muss, auch auf Kosten der Autofahrer, und seit der Rat der Stadt mehrheitlich die Ziele der Bürgerinitiative „RadEntscheid“ zu seinen eigenen gemacht hat – seitdem: Diskutieren vor allem die normalen Bürger. Man sieht es in den Leserbriefspalten der Zeitung. Man sieht es in den Foren der Netzwerke. Es diskutieren nicht: Die großen Parteien.

Hemsteeg ärgert sich, dass jetzt versucht werde, „das eine gegen das andere Verkehrsmittel auszuspielen“ und man Autofahrern Platz wegnehme, um ihn umzuwidmen in Radwege. Radwege zu schaffen, sei gut und richtig, aber solle man nicht erst mal die alten Güterbahn-Trassen weiter ausbauen für die Fahrradfahrer?

Warum Radler häufig Aggressionen auslösen

„Mit Trassen ist es nicht getan“, entgegnet Mirko Sehnke vom Radclub ADFC. „Trassen sind nicht von jedem Punkt der Stadt aus erreichbar und sind häufig nicht beleuchtet. Das spielt jetzt, im anbrechenden Herbst, eine entscheidende Rolle.“ Deshalb müsse es vorrangig darum gehen, dass sich Radfahrer im normalen Straßenraum sicher bewegen könnten – dazu seien Fahrradstraßen eine gute Möglichkeit. „Auch wenn“, wie Sehnke beobachtet hat, „die meisten Leute noch nicht verstanden haben, was das überhaupt ist.“


Definition: Das ist eine Fahrradstraße

Kurz gesagt, und für alle nochmal zum Mitschreiben: Auf einer Fahrradstraße haben Fahrräder Vorrang. Sie dürfen nebeneinander fahren. Für alle gilt Tempo 30. Fertig. Nichts anderes gilt ab sofort auf der Rüttenscheider, auf der man übrigens schon immer auf der Straße radeln durfte und nicht die handtuchschmalen, rot gepflasterten „Radwege“ nutzen musste, die in den Bürgersteig eingelassen waren.

Doch Radler lösen unverhältnismäßig häufig Aggressionen aus – bei Autofahrern in engen Straßen, aber auch bei Spaziergängern auf Flanierwegen wie am Baldeneysee. Das liegt auch daran, dass sich Radler, denen grundsätzlich ein gewisses Maß an Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein unterstellt wird, immer ein bisschen mehr im Recht fühlen als andere. Der Autor dieser Zeilen, selbst passionierter Radfahrer, weiß, wovon er spricht. Oder, um es konkret auszudrücken: Mal eine Abkürzung über den Bürgersteig, mal eine rote Ampel ignorieren – als Radler bricht man manchmal Regeln, die man als Autofahrer strikt einhält.

Schnelle Lösungen gibt es nicht

Sehnke wiederholt, was Fahrrad-Lobbyisten schon immer gesagt haben, und was jetzt auch der Oberbürgermeister anscheinend zu seiner Devise gemacht hat: „Wer den Radverkehr fördern will, der muss dem motorisierten Individualverkehr etwas wegnehmen.“ Das sei nur recht und billig, findet Sehnke: „Autos sind 40 Jahre in dieser Stadt bevorteilt worden, jetzt sind Fußgänger und Fahrradfahrer an der Reihe.“

Das ist die Sicht eines Interessenvertreters. Die schnelle Lösung für praktische Probleme – wie zum Beispiel auf der Rüttenscheider Straße – ist es nicht. Dort übrigens hat Flickschusterei noch nie geholfen: Mitte der Neunziger Jahre war der Abschnitt zwischen Stern und Martinstraße samstags vormittags für Autofahrer gesperrt. Eine Maßnahme, die wieder zurückgenommen wurde.

Aber schnelle Lösungen, sind wir ehrlich, kann es nicht geben. Die Menschen in Essen und im Ruhrgebiet vom Auto raus aufs Fahrrad zu bringen, ist eine Angelegenheit von Generationen. Man muss halt nur mal damit anfangen, in aller Konsequenz.