Oberbürgermeister-Kandidat Oliver Kern (SPD) über Pläne für eine linkere Politik, seinen Hang zu leisen Tönen und Ärger über die Rats-Kollegen.
EssenHerr Kern, es ist OB-Wahlkampf. Aber wann geht’s bei Ihnen denn mal so r i c h t i g los?
Das ist doch schon passiert, auch wenn das der eine oder andere Redakteur noch nicht mitbekommen hat: Ich bin in der Stadt sehr viel mit Menschen unterwegs, nicht nur an Infoständen, mache Stadtteilspaziergänge, gehe zu vielen kleineren Treffen, nehme an Online-Veranstaltungen teil. Darin steckt viel Potenzial. Ich erlebe das als sehr spannend, und es macht Riesenspaß: Ich bin ja zum ersten Mal Kandidat.
Ein regelrechter Seitenwechsler: Sonst haben Sie immer Wahlkämpfe für andere organisiert.
So ist es: für Landtags- und Bundestagsabgeordnete oder für Ratsmitglieder. Als Kandidat ist das noch mal eine ganz andere Ebene.
Bei der Diskussionsrunde „Essen kontrovers“ haben Sie Ihren Bekanntheitsgrad neulich mit „außerordentlich gut“ beschrieben. Echt jetzt? Machen Sie sich da nichts vor?
Nein, ich bin ein sehr realistischer Mensch und glaube als solcher eben nicht, dass bei dieser OB-Wahl schon
alles gelaufen ist. Ich denke, es wird unterschätzt, wie bekannt ich in Essen bin. Ich habe hier allein über 30 Kitas gebaut, verfüge über ein gutes Standing in der Stadtverwaltung und bin bei der Arbeiterwohlfahrt in Kontakt mit 6000 Menschen in über 30 Ortsvereinen. Also ich bin davon überzeugt: Es wird ein rotes Wunder geben.
„Wunder gibt es immer wieder“ sang schon Katja Ebstein, und die hat Wahlkampf für Willy Brandt gemacht.
Ich weiß. Ich weigere mich auch, dem Mainstream hinterherzulaufen, dass das, was irgendwo gedruckt steht oder online zu lesen ist, schon die Realität abbildet. Man sollte nicht unterschätzen: Auch Herr Kufen hat in den letzten Jahren Fehler gemacht, und diese Fehler wirken nach. Er ist jemand, der an der einen oder anderen Stelle gut ankommt, mag sein, aber das allein reicht nicht. Man muss auch liefern. Von seinen Versprechen hat er nicht viele gehalten, er schüttelt Hände, redet viel und macht wenig. Entsprechend viel ist liegen geblieben in dieser Stadt.
„Ich erlebe den Zuspruch auch dort, wo ich ihn nicht erwartet hätte“
Und doch: Dieser Wahlkampf elektrisiert nicht, ist nicht so präsent wie das vielleicht in anderen Jahren war. Liegt das an Corona?
Ganz sicher, aber nur zu einem kleinen Teil. Vieles findet mittlerweile über Social Media statt. Die Medienlandschaft hat sich verändert, die Menschen konsumieren mehr digital, und darauf setzen wir auch...
...treffen dort allerdings nur ein bestimmtes Spektrum von Leuten...
Klar, die Altersstruktur ist unterschiedlich. Wir bedienen die ganze Bandbreite von Facebook bis zu Zeitungsanzeigen, und ohnehin entscheiden erst die letzten beiden Wochen. Wahlkampf hat sich einfach verändert. Ich bin viel unter Leuten, ohne das immer publik zu machen. Das kriegen viel nicht mit, weil es unter dem Radar läuft. Darum bin ich nach wie vor überzeugt, dass wir das rocken werden.
Und unsereins dachte schon, Sie hätten womöglich eher den Blues.
Nee, im Gegenteil: Ich erlebe den Zuspruch ja auch dort, wo ich ihn nicht erwartet hätte. Bei Leuten, die sagen: Ich wähle die CDU – aber deren Oberbürgermeister nicht.
Wir hören oft genau das Gegenteil, das würde sich ja dann ausgleichen.
Ich bin mir da gar nicht so sicher. Aber wir werden es ja am 13. September sehen. Es wäre doch irrsinnig, wenn ich ähnlich wie unser Fraktionschef im Rat Ingo Vogel sagen würde „Wir lassen Federn“.
„Mit mir als OB wird’s Wohnungsbau in Landschaftsschutzgebieten nicht geben“
Hat sie das geärgert?
Sagen wir mal so: Ich war ein bisschen irritiert.
Aber akzeptieren Sie das nicht als Versuch, angesichts mieser SPD-Umfragen im Bund, genau das zu vermeiden, was einen sonst an Wahlkämpfern aller Parteien und aller Ebenen so abstößt? Dass sie sich
Zur Person
Sich aus schwierigen (Familien-)Verhältnissen hochgearbeitet zu haben, das ist der rote Faden, der sich durch die Vita von Oliver Kern zieht. Als siebtes von zehn Kindern wuchs der gelernte Erzieher in Essen auf, absolvierte ein berufsbegleitendes Studium als Gesundheits- und Sozialökonom und wurde 2016 der Arbeiterwohlfahrt.
Kern, 54, ist seit 2002 Mitglied der SPD, und hat bislang noch keine Erfahrung in politischen Ämtern. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
die Welt schönquatschen?
Es geht doch nicht darum, sich die Welt schönzuquatschen, sondern darum, auf Sieg zu setzen, und das kann ich nicht, indem ich im Vorfeld schon Wahlkämpfer mit so einer Nachricht in den Slowdown bringe.
Aber Sie waren doch auch nicht besser: Bei einem Ortstermin im Icktener Bachtal haben Sie sich sogar für den Beschluss der SPD-Ratsfraktion entschuldigt, dort Bauland auszuweisen.
Stimmt, ich finde, wir müssen uns da ehrlich machen, denn die Bürger erwarten von uns etwas anderes.
Die Bürger erwarten vieles, teils auch Gegensätzliches. Wenn man allen nachgäbe, würde nichts passieren.
Ich glaube, es ist dennoch das falsche Signal, Landschaftsschutzgebiete umzuwidmen. Und wenn die Fraktion, weil sie in der GroKo steckt, so entscheidet, muss sie damit rechnen, dass der OB-Kandidat das anders sieht. Mit mir als Oberbürgermeister wird’s Wohnungsbau in Landschaftsschutzgebieten nicht geben.
„Mit der jetzigen Ratsfraktion ist einiges nicht zu machen“
Aber Sie bleiben nach wie vor die Antwort schuldig, wo Sie abseits von ein paar Baulücken wie geplant 8000 Wohnungen binnen fünf Jahren bauen wollen.
Das ist eine Hausnummer, ich weiß. Aber wir kriegen das hin: Wenn ich mir einige runtergerockte Wohnsiedlungen anschaue, kann man dort nachverdichten oder auf anderen Grundstücken neu bauen, die die Bürger teils selbst benannt haben. Wir müssen die dann nur auch in den Blick nehmen und nicht jene Flächen, die schon tausendmal vorgeschlagen wurden und wo Leute sich gleich dagegenstellen.
Herr Vogel signalisiert, die Genossen würden sich sicherlich an der einen oder anderen Stelle unbeliebt machen müssen, was die Erschließung neuer Wohnbau- oder Gewerbeflächen angeht. Wird es ähnliche Fälle geben, wo Sie im Zweifel anderer Meinung sind als die SPD-Ratsfraktion?
Es wird eine neue Ratsfraktion geben, insofern glaube ich, dass wir in Zukunft gemeinsam Politik machen und nicht am OB vorbei.
Täuscht der Eindruck, oder suchen sie die Distanz zur Ratsfraktion?
Ich würde sagen: zur momentanen, denn mit der ist einiges nicht zu machen, das muss man ehrlicherweise sagen. Mit den neuen Kandidaten, die auch eine andere Politik wünschen, die eine andere Vorstellung haben, von dem, wie man mit den Menschen vor Ort umgeht, wie man andere Bürgerbeteiligungsformate entwickelt, da kriegen wir mehr bewegt, als wenn wir das so wie jetzt von oben machen, praktisch durchdrücken, dann haben wir die Widerstände.
Klingt, als wünschten Sie sich eine Rats-SPD, die Ihnen eher liegt...
Ja, wir wollen eine andere Politik.
„Wenn wir sozialen Frieden wollen, müssen die Lebensverhältnisse ähnlich werden“
Da komme ich Ihnen mit einem abgewetzten Etikett: eine „linkere“ Politik?
Ja, definitiv, ich bin ein „linker“ Sozialdemokrat. Privat vor Staat, das war in den 1990ern der größte Fehler, den wir gemacht haben, ich bin fest überzeugt davon, dass wir dadurch viele Menschen abgehängt und den Reichen die Taschen noch voller gemacht haben. Da müssen wir umschwenken, wenn wir sozialen Frieden wollen, und dafür sorgen, dass die Lebenswirklichkeiten ähnlicher werden. Nicht, dass alle plötzlich reich werden, das ist nicht das Ziel. Aber wenn wir die ungleichen Verhältnisse nicht aufbrechen, kommt es irgendwann zu komischen Verhältnissen in Deutschland, auch in dieser Stadt.
Und die jetzige SPD-Politik im Rat ist Ihnen zu pragmatisch?
Zu sehr GroKo-hörig ja. Ich hätte mir manchmal kritischere Töne gewünscht, weniger Duckmäusertum und ein bisschen mehr Aufbruchstimmung. Und manchmal auch ein „Dagegen“.
Ein „Dagegen“ ist in so einer verabredeten GroKo natürlich Mist.
Man kann sich enthalten.
Darf sich die stärkste Fraktion im Stadtrat in politischen Fragen enthalten?
Aber ich verkaufe doch meine Seele nicht! Ich erinnere allein an die Seebrücke...
...eine Bewegung, die gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung im Mittelmeer kämpft und für die Aufnahme dort aufgegriffener Flüchtlinge...
...da ging es um eine Hand voll Menschen, die wir zusätzlich aufnehmen. Dort nicht zuzustimmen, ist mit sozialdemokratischer Politik nicht zu vertreten, und es geht ja nicht nur um die SPD. Da erwarte ich von einer christlich geprägten Gesellschaft mehr.
„Im Norden sind nach wie vor die Sozialdemokraten die Kümmerer“
Als jemand, der selbst bislang nie auf Plakaten prangte, hatten sie immer eine etwas distanzierte Sicht auf Wahlkämpfe. Hilft ihnen das derzeit, die Lage einzuschätzen? Ob der Grünen-Hype nach dem trockenen Sommer zurückkehrt, ob die CDU vom Bundestrend profitiert, die AfD hier Boden verliert oder das Bürger Bündnis mit gefühlt 100.000 Plakaten im Straßenbild punktet?
Nein, das gelingt nicht, was natürlich auch an Corona liegt, weil man live eben nie viele Menschen auf einmal erlebt.
Dabei wüsste man gern, welches Potenzial dieses neue Sozial Liberale Bündnis hat, bei dem unter anderem der Ex-SPD-Vize in Ihrem Teich fischt. Ärgert Sie das?
Nein, weil ich glaube, dass wir großartige Kandidaten im Rennen haben, die einen Superjob im Wahlkampf machen. Ich halte nichts von Leuten, die – wenn sie mit ihrer Position nicht durchdringen – kurzerhand die Partei wechseln. Dieses SLB ist keine große Konkurrenz. Ich bin vielmehr überzeugt, dass der Norden nicht so viel Federn lassen wird, wie der eine oder andere glaubt, sondern dass die SPD da wieder punkten kann.
Weil die AfD sich gerade selbst zerfleischt?
Als Awo-Geschäftsführer bin ich viel im Norden unterwegs, da sehe ich, was die Menschen so bewegt. Dort sind nach wie vor die Sozialdemokraten die Kümmerer – und die anderen polemische Politiker, die einfach Parolen raushauen, am Ende aber nicht liefern. Und wer wie die AfD Wahlen gewinnt mit illegalen Spendengeldern, also da erwarte ich, dass die Bürger das wahrnehmen und ihr Kreuzchen vielleicht doch wieder bei der SPD machen.
„Was Contilia mit den Menschen da macht, finde ich erbärmlich“
Das klingt alles sehr unaufgeregt bei Ihnen, wie Sie ja überhaupt ein auffällig leiser Kandidat sind.
Weniger reden, mehr machen: Das ist ja mein Slogan.
Klar, aber wir reden ja hier nicht von der Textmenge, sondern von der Lautstärke. Können sie auch laut?
Natürlich, fragen Sie mal den einen oder anderen meiner Mitarbeiter. Als Chef muss man auch mal auf den
Tisch hauen, aber ich bin Teamplayer, der gern Debatten führt und suche den größtmöglichen Konsens. Das mache ich mit Ruhe und Gelassenheit.
Wie gelassen bleiben Sie etwa in der Frage der Klinikschließungen im Norden?
Da werde ich allerdings laut, weil ich erbärmlich finde, was dort passiert, und da geht es mir noch nicht mal um das Nord-Süd-Gefälle in der Stadt, sondern darum, wie man ohne Konzept so viele Menschen praktisch über die Wupper gehen lässt: heute so, morgen so, übermorgen wieder anders. Das haben die Mitarbeiter nicht verdient, wie Schachfiguren hin und hergeschoben zu werden. Da erwarte ich von einem christlichen Träger schon etwas anderes.
In der Kritik an Contilia sind Sie sich mit dem OB einig. Dass es auch sonst wenige kontroverse Themen gibt...
...dieser Eindruck täuscht. Herr Kufen bedient jetzt den Mainstream, entdeckt etwa die Radwege plötzlich als sein Thema, obwohl sich das vor Wochen noch ganz anders anhörte. Er will ein paar grüne Wähler abgreifen, also nehme ich ihm das nicht ab. Gleiches gilt für zurückgenommene Baupläne, wo es vorher schon Zusagen gab, oder beim Innenstadtkonzept – da gehen wir anders ran.
Und wo greifen Sie auf der Zielgeraden des Wahlkampfs noch mal an?
Lassen Sie sich überraschen.