Ingo Vogel, der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Rat, über seinen leisen Kurs, laute Parteiwechsler und den möglichen Abschied von der Macht.
EssenHerr Vogel, seit mittlerweile sechs Jahren schnurrt diese gut geölte Polit-Maschine namens Essener GroKo vor sich hin. Verfolgt Sie manchmal der Alptraum, nach dem 13. September den Maschinenraum verlassen zu müssen?
Erst einmal: Schön, dass Sie den Eindruck einer gut geölten Maschine gewinnen, dann haben wir nach außen hin ja schon mal alles richtig gemacht.
Ach, drinnen quietscht es wohl mehr, als man so vermutet?
Wie in jeder guten Ehe kracht’s auch mal im Karton, das ist doch selbstverständlich. Es gibt Themen, da sind wir uns mit der CDU völlig uneins, aber zumindest haben wir eine sehr sehr große Schnittmenge gestalten können. Das kommt in der Öffentlichkeit vielleicht manchmal allzu pragmatisch rüber, mag sein, aber damit haben wir vernünftige Politik gemacht.
Nun werden in zweieinhalb Wochen die Karten neu gemischt.
Und der bundesweit bittere Umfragetrend für die SPD ist bekannt. Der tut uns natürlich weh, zumal wir auf dieses niedrige Stimmen-Niveau als älteste Volkspartei nach meiner festen Überzeugung nicht hingehören.
Wir werden sicherlich auch in Essen Federn lassen, aber ich bin voller Zuversicht, dass wir hier so schlecht dann auch nicht abschneiden.
„Kompromisse zu finden, scheint in der Gesellschaft aus der Mode zu kommen“
Weil Sie glauben, an dieser Delle ist nichts hausgemacht?
Das sehe ich so, ja. Hier vor Ort machen wir eine sehr gute Kommunalpolitik. Natürlich gefällt nicht immer allen alles, in einer Koalition lassen sich keine 100 Prozent pures SPD-Rot erreichen. Da gilt es, Kompromisse zu finden, das ist demokratischer Auftrag, auch wenn das in der Gesellschaft aus der Mode zu kommen scheint. Bei vielen Themen wird polarisiert, da gilt oft alles oder nichts. Wir können es uns in einer Stadt wie Essen aber nicht leisten, nichts zu tun.
Klingt defensiv. Haben Sie sich Ihre Rolle als stärkste Fraktion im Rat der Stadt schon abgeschminkt?
Die bleibt natürlich unser Ziel, wie auch, dass wir den Oberbürgermeister stellen wollen. Aber ganz ehrlich, das ist für mich im Moment nicht in Sicht. Die ganze politische Landschaft ist bunter und vielfältiger geworden, die Bandbreite wächst, viele Bürger entscheiden sich immer kurzentschlossener.
Womöglich wäre die SPD für eine Ratsmehrheit nicht nötig, weil es für CDU und Grüne so gut läuft.
Rein rechnerisch könnte das möglich sein. Sollte es in diese Richtung laufen, sind wir auf gar keinen Fall bange davor, eine sehr gute Opposition zu sein. Wir könnten unser Profil rot pur schärfen und bringen den einen oder anderen, der dann mitgestalten müsste, arg in Bedrängnis.
„Wir haben heikle Themen: Da empfände ich Haudrauf-Wahlkampf als nicht passend“
Ein unscharfes Profil, schön, dass Sie das sagen. Sonst ist es in Koalitionen üblich, sechs, sieben Monate vor einem Wahltermin auseinanderzudriften. Man sucht sich eine Soll-Bruchstelle, schreit Zeter und
Zur Person
Die dominierende Zeit der Essener SPD kennt Ingo Vogel, Jahrgang 1976, nur aus Erzählungen: Der Polizeibeamte im Range eines Kriminaloberrats kam erst 1998 zu den Genossen, zog 2009 in den Rat ein, engagierte sich vor allem in der Sportpolitik und wurde 2014 Vorsitzender des Ordnungsausschusses. Im Januar 2019 wählte ihn die 30-köpfige SPD-Ratsfraktion zu ihrem Vorsitzenden.
Vogel ist in Huttrop geboren und aufgewachsen und wohnt dort nach wie vor. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Mordio und macht befreiter Wahlkampf. Bei Essens GroKo gewinnt man dagegen den Eindruck, bis zum letzten Tag gehen Herr Vogel und Herr Uhlenbruch Arm in Arm in den Sonnenuntergang.
Also ich finde, die Unterschiede zwischen unserem OB-Kandidaten Oliver Kern und dem Amtsinhaber sind im Wahlkampf schon deutlich spürbar, auch was die Themen angeht, die da bespielt werden. Auch die Fraktion hat auf manchen Feldern so lange dagegen gehalten, bis es knarzte. Beim Neubau der Frida-Levy-Gesamtschule in der Innenstadt waren wir zum Beispiel eisenhart. Bei anderen Themen mag das umgekehrt sein. Dass wir aktuell in der Ratsarbeit nicht so unterschiedlich wahrgenommen werden, lag nicht zuletzt an der Zwangspause wegen Corona.
Es ist wohl auch eine Typfrage. Sie sind niemand, der auf Gedeih und Verderb den Streit sucht, oder?
Na ja, wenn es sich empfiehlt, haue ich auch mal auf den Putz. Nicht zuletzt die Haushaltsrede hat die CDU arg irritiert, weil wir da mal ein bisschen schärfer geworden sind. Ich wäge aber tatsächlich ab. Wir wollen bei den Sachthemen schließlich im Sinne der Stadt und ihrer Bürger weiterkommen. Und wir hatten und haben heikle Themen: von Contilia und der Krankenhaus-Versorgung im Norden bis zu Karstadt/Kaufhof – da
empfände ich so einen lustigen Haudrauf-Wahlkampf als nicht passend.
Sie kündigen ein Jahrzehnt der Erneuerung an. Wer muss sich mehr erneuern, die Stadt oder die SPD?
Wer ist d i e SPD? Diese Partei entwickelt sich ständig weiter, nicht zuletzt weil an der Basis die Unzufriedenheit mit den Umfrage- und den sich daraus vielleicht ergebenden Wahlergebnissen sehr hoch ist. Es ist ein eigener innerer Antrieb, sich zu verändern, und wir sind mitten dabei: Ein Viertel unserer Kandidaten ist unter 35 Jahren alt, wir werden weiblicher, bunter.
„Allein das Benennen der Probleme, laut und schrill, löst sie ja noch lange nicht“
Beim Häutungsprozess sind Ex-Sozis wie Peter Lotz, Guido Reil oder Karlheinz Endruschat abhanden gekommen. Sorgt Sie nicht, dass damit auch die inhaltliche Debatte in der Partei verarmt?
Wer glaubt, Partei oder Ratsfraktion hätten sich der Debatte verweigert, irrt: Man konnte hier wie dort jedes Thema ansprechen, musste nur damit leben, dass Leute auch mal widersprechen und es für die eigene Position keine Mehrheit gibt. Einige hielten sich in den Gremien deshalb betont zurück und suchten die Debatte dann nur in den sozialen Medien. Es sind aber nur einzelne, die dafür umso lauter sprechen.
Über Themen, die teilweise offenbar den Nerv treffen...
...und die wir überhaupt nicht leugnen: Die angesprochenen Probleme insbesondere im Essener Norden, von Kriminalität über Sicherheit und Sauberkeit bis zum Leben miteinander, das sind selbstverständlich Dauerthemen, auch bei uns. Und wir suchen nach wie vor mit allen politischen Kräften nach Lösungen. Denn allein das Benennen der Probleme, möglichst laut und schrill, löst sie ja noch lange nicht.
Erleben Sie auch, dass viele nur noch in ihrer Filterblase unterwegs sind und keiner mehr mit Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“, also hier: diskutieren will?
Ein Stück weit ist da was dran. Es gibt diese unglaubliche Polarisierung: Entweder Du bist für oder gegen uns. Der klassische Kompromiss innerhalb eines guten Gesprächs kommt aus der Mode. Wer nicht 100-prozentig der gleichen Meinung ist, wird als Gesprächspartner schon fast uninteressant, erntet Beleidigungen oder Schlimmeres. Das ist ein Weg, den mache ich nicht mit.
„Ich glaube schon, dass man sich der A52 noch einmal konstruktiv annehmen müsste“
Dass die Corona-Krise zudem manche Debatte abwürgt, macht es für die SPD nicht leichter, oder?
Leichter nicht, aber auch nicht schwerer. Wir waren unter den ersten, die erkannt haben, dass in dieser Krise arme Menschen, die Abgehängten, mehr denn je Hilfe brauchen. Dass wir uns auch mehr denn je um Kinder und Jugendliche kümmern müssen.
Am Ende ist es aber so, dass in der Krise profitiert, wer die „Regierungs“-Fäden in der Hand hat.
Das stimmt. Das war Kanzler Gerhard Schröder damals beim Oderhochwasser, und das ist heute Oberbürgermeister Thomas Kufen…
…nur ohne Gummistiefel…
...der die Möglichkeit hat, sich ungleich besser darzustellen, als es die Herausforderer können. Zumal es wegen Corona ja lange Zeit keine Veranstaltungen gab.
Und in Essen kaum strittige Themen: Wer sollte was dagegen haben, dass wir um Karstadt-Kaufhof bangen, Contilia an ihre Verantwortung gemahnen, die drohende Abwanderung von Firmen beklagen, die Finanzen sanieren? Auch beim Radentscheid gehen alle mit.
Aber wir haben Unterschiede bei genauso vielen Themen: Umweltspur, Flughafen, A52.
Seien Sie froh, dass die A52 nicht zur Debatte steht. Deren Ausbau ist vor allem in der SPD umstritten.
Es gibt einen Parteitagsbeschluss, die Durchstreckung in Tunnellage zu befürworten, aber der ist auch schon wieder lange her. Ich glaube schon, dass man sich des Themas noch einmal konstruktiv annehmen müsste. Aber ich weiß natürlich auch, dass es in der SPD unterschiedliche Meinungen dazu gibt.
„Wir müssen die Stadtentwicklung selber federführend begleiten“
Nicht nur dort. In der Vergangenheit stand immer mal wieder der Vorwurf im Raum, die SPD stehe bei strittigen Themen stets auf beiden Seiten der Barrikade. Sie wollten das doch mal bereinigen.
Ich finde, das ist mittlerweile auch im Groben gelungen. Die Frage ist natürlich: Wer ist d i e SPD? In dieser Stadt haben immer noch gut 3500 Menschen unser Parteibuch, zum Glück, das ist unser Pfund! Da kann man immer mal jemanden in seinem persönlichen Lebensbereich so ärgern, dass er möglicherweise gegen die eigene Partei eine solche Initiative gründet.
Im Zweifel werden Sie sich bei den eigenen Leuten unbeliebt machen müssen. Wer sich das nicht traut, sollte nicht in die Politik gehen.
So ist das. Das werden wir bei den Bauflächen erleben, einem der wichtigsten Themen der Zukunft: Wir brauchen Flächen für Wohnen und Gewerbe, und wir brauchen auch Flächen für die öffentliche Hand, für Kitas etwa. Ohne irgendwem zu nahe treten zu wollen: Von örtlich Betroffenen kommen oft ausschließlich Bedenken, und am Ende steht man mit null Flächen da. Daraus entstand ja auch der Workshop „Wo wollen wir wohnen?“.
Der gemessen am Ergebnis nicht wirklich gut funktioniert hat…
Er hat insofern funktioniert, als wir Bürger beteiligt, Flächen diskutiert und einige ausgewählt haben. Dass das Ergebnis manchem nicht gefällt, kann ich verstehen. Der Rat darf aber nicht Everybody’s Darling sein wollen, sonst ist Stadtentwicklung nicht mehr möglich. Das Thema wird uns dauerhaft begleiten, denn diesen Wandel kann man nicht nur geschehen lassen, indem Leute her- oder wegziehen und ansiedlungswillige Firmen anfragen. Wir müssen die Entwicklung selber federführend begleiten. Das klappt, wenn man die Mehrheiten dazu hat und ein ordentliches Gesamtpaket schnürt.
Wenn man die Mehrheiten hat, Sie sagen es. Wer ist Ihr größter Gegner, wenn’s darum geht, an der Gestaltungsmehrheit teilzuhaben?
Ich glaube, diesen „Hauptgegner“ im Sinne von dieser oder jener Partei oder den Nichtwählern gibt es gar nicht mehr. Wir haben an vielen Stellen verloren, und jetzt geht es darum zu sagen, wen wähle ich, damit es der gesamten Stadt gut geht? Der alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern in einem Altenessener Hochhaus hilft es nicht so viel weiter, wenn jemand nur davon redet, das Klima zu retten. Die hat noch ganz andere Herausforderungen in ihrem Leben. Und wir bedienen als Volkspartei immer noch die ganze Bandbreite, in allen Stadtteilen.
Klingt nicht nach Alp-, sondern nach dem alten Traum der SPD...
Ja, wir wollen überzeugen für die sozialdemokratische Idee.