Essen. Oliver Kern gilt als Gesicht, Stimme und Seele des Vereins für Kinder- und Jugendarbeit. Nun will er seine Talente bei der Essener Awo entfalten.

Als sein Wechsel zur Arbeiterwohlfahrt bekannt wurde, gab es Fragen, Gratulationen – und Unglauben: „Wie kannst Du nur gehen?“, wurde Oliver Kern gefragt. Formal ist er seit zehn Jahren Geschäftsführer des Vereins für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten, tatsächlich ist er Gesicht, Stimme und Seele des VKJ.

Das liegt auch daran, dass Kern erst „Kunde“ war, bevor er Mitarbeiter wurde: Als Sechsjähriger nahm er an einer VKJ-Freizeit teil und genoss nicht nur die Schönheit von Balderschwang im Allgäu, sondern die bloße Tatsache, „dass es jeden Tag ein warmes Essen gab!“ Zu Hause bei Kerns, wo sich die Mutter um zehn Kinder kümmerte und der Vater das wenige Geld vertrank, hatte der Junge Hunger kennengelernt, Hunger und Schläge.

Die jährlichen Freizeiten sollten zu einem Rettungsanker in seiner Kindheit werden, ebenso wie seine Grundschullehrerin, der es nicht gleichgültig war, ob der kleine Oliver zur Schule kam. Die ihn nicht schalt, sondern mit Fleißkärtchen ermutigte: „Sie hat verhindert, dass ich auf der Sonderschule landete.“ Oliver sei sozial, lernfähig, interessiert und gut organisiert, schrieb sie ihm ins Zeugnis. Er hat das vorgelesen, als er vor einigen Jahren den Talent Award bekam, und er rief den Juroren lächelnd zu: „Sie sind mit ihrem Lob 40 Jahre zu spät.“

Das war eine kleine Verbeugung vor seiner Lehrerin Marianne Bonsiepen, die im Publikum saß. Kurz zuvor hatte sich die alte Dame bei ihrem früheren Schüler gemeldet: Sie habe seine Karriere mit Freude verfolgt und zu ihrem 90. Geburtstag Spenden fürs VKJ-Mehrgenerationenhaus gesammelt.

Es steckt viel drin in dieser Geschichte: Etwa, dass jedes Kind einen Menschen haben sollte, der an es glaubt. Aber auch, dass dieser Mensch mitunter Geduld braucht „und dem Kind nichts überstülpen sollte“, wie Kern formuliert. Er hat auch erstmal einen Hauptschulabschluss gemacht, wollte dann nur rasch Geld verdienen, wurde Erzieher. Arbeitete im Heim, das er auch schon aus der Perspektive des abgegebenen Jungen kannte.

Als Erzieher kam er vor 24 Jahren auch zum VKJ, und in diesem kleinen Biotop entwickelte er sich weiter, wurde Kita-Leiter, baute Kinderhäuser auf, gründete einen Betriebsrat – begann mit 38 Jahren ein berufsbegleitendes Studium. Und erlebte, als er Geschäftsführer wurde, trotzdem Skepsis, ob er das könne. Tatsächlich bewahrte er den Verein vor der Abwicklung. „Ich musste einen Sozialplan umsetzen und habe 25 Mitarbeitern persönlich die Kündigung überreicht. Das war die schwerste Stunde!“ Die Trümmerarbeit begann er mit 60 Kollegen, holte später viele Gekündigte ins Team zurück: Heute hat der VKJ 249 Mitarbeiter.

Er will den Menschen nah sein

Wichtig ist Kern, dass er jeden von ihnen kennt und meist auch seine Lebensgeschichte. „Ich lasse den Löffel fallen und höre zu, wenn jemand Rat oder Trost braucht.“ Er schätzt menschliche Nähe und den großen Aufritt. Awo-Geschäftsführer Wolf Ambauer, dem er im April 2016 folgt, habe ihn als Rampensau bezeichnet. „Ja, ich bin kein leiser Chef; nun wird wohl auch die Awo lauter. Ich muss raus, auf Facebook sein und auf der Bühne.“ Er wolle Ideen umsetzen, nehme ein Nein eher als Zeichen, „dass da ganz viel geht“. Bei der großen Awo gehe womöglich noch mehr als beim VKJ, auch politisch habe sie mehr Gewicht. Die Nähe zur SPD schreckt ihn nicht, er ist selbst aktiver Sozialdemokrat. „Die Awo ist aus der Arbeiterbewegung entstanden – wirft jemand der Caritas vor, dass sie katholisch ist?“

Kern, der dieser Tage 50 wird, freut sich auf die Herausforderung – die an ihn herangetragen wurde: Wer einen Job zu lange mache, werde womöglich betriebsblind. Bei der Awo wolle er in der ersten Zeit wieder überall hinrennen und reinschnuppern. Seine Familie kenne ihn ja nur so, „aber ich hab’ früher die Kinder ins Bett gebracht und am Wochenende gekocht“.

Jetzt sind seine Kinder groß, und der VKJ ist es auch. „Ich gehe, aber ich verschwinde nicht: Anrufen kann man mich auch bei der Awo.“

Arbeiterwohlfahrt (Awo) und Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten (VKJ)

Die Arbeiterwohlfahrt Essen, zu der Oliver Kern als Geschäftsführer wechselt, sei der größte Awo-Kreisverband bundesweit, sagt er: „Die haben 8000 Mitglieder, 1300 Mitarbeiter sowie mehr als 1300 Ehrenamtliche.“

Im Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten (VKJ) kenne er praktisch jeden persönlich: Hier gebe es 192 Mitglieder, 249 Mitarbeiter und 180 Ehrenamtliche.