Essen. . Thomas Kufen (CDU) über seinen Ärger mit Contilia und Zweifel in Corona-Zeiten, über Nord-Süd-Stereotypen und die Sehnsucht nach dem alten Leben.
Herr Oberbürgermeister, was für ein Timing: Wenige Wochen noch bis zur OB-Wahl, da kommen Sie eines Dienstagmorgens bei Karstadt-Kaufhof die Rolltreppe herunter und sagen den glücklichen Mitarbeitern: „Ihre Filiale ist gerettet.“ Das hätte Ihr Wahlkampf-Berater nicht schöner konstruieren können, oder?
Ich habe an diesem Morgen am Limbecker Platz an ganz ganz vieles gedacht, aber nicht an Wahlkampf. Die Tränen und die Freude der Leute zu sehen, von denen ich viele bei den Mahnwachen kennenlernen durfte und deren Geschichte ich gehört habe – das war einer der emotionalsten Momente meiner bisherigen Zeit als Oberbürgermeister. Und wenn wir auch nicht alles haben retten können, neben der Filiale im Limbecker Platz ist immerhin auch die Hauptverwaltung dabei. Da drohten über 1000 Arbeitsplätze nach Köln abzuwandern. Deshalb war das ein guter Tag für die Stadt.
Und ein guter für den Wahlkämpfer Kufen. Wie dringend brauchten Sie einen solchen Erfolg, wo es zuvor doch eine Reihe von Nackenschlägen gab:_Thyssenkrupp Elevator zieht weg, Kollektor geht, zwei Kliniken im Norden sollen schließen...
In der Tat kam es eine Zeit lang knüppeldick. Ich sehe aber auch die gesamte Bilanz: Wir haben in den fünf Jahren meiner Amtszeit rund 18.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen, auch weil
Unternehmen am Standort investiert haben: ob Aldi, Brenntag, RWE oder Karstadt-Logistik. Eine sehr herausfordernde Zeit.
Beschleicht Sie bei Karstadt-Kaufhof aber nicht auch die leise Befürchtung, das könnte Ihr „Holzmann“-Moment sein wie weiland bei Kanzler Schröder und dem gleichnamigen Baukonzern? Eine Rettung zu verkünden, von der sich wenig später herausstellt, dass sie nicht von Dauer war?
Die Warenhaus-Welt ist im Wandel, so viel steht fest. Auch Karstadt-Kaufhof muss diese Veränderung mitgehen und den Online-Handel stärker berücksichtigen, sonst sitzen wir in drei Jahren wieder hier. Das Management ist sicher gut beraten, auf die eigenen Mitarbeiter zu hören, denn die wissen ziemlich genau, was die Kunden erwarten – an Service aber auch Aufenthalts-Qualität in den Häusern.
„Viele sagen ,Ich möchte mein altes Leben wieder zurück’. Ich gehöre auch dazu“
Vielleicht hat man sich ja nur Zeit gekauft, was so schlecht nicht wäre, wenn die Lösung zwar noch nicht parat liegt, aber in Arbeit ist.
Es geht ja nicht nur um das Warenhaus allein. Wir sehen auch bei anderen Unternehmen des Textil-Einzelhandels massive Umsatzeinbrüche, und ich bin fest überzeugt: Ohne die vorherige Fusion von Karstadt und Kaufhof wären an diesem Punkt der Corona-Krise beide Häuser nicht mehr da gewesen. Wir merken das an unserer Innenstadt: Die Einkaufsstadt alleine trägt nicht mehr, Shopping findet für viele heute im Internet statt. Was wir vor Ort mehr bieten können, ist Aufenthalts-Qualität, Gastronomie, Event, ein Einkaufsgefühl, da müssen wir besser werden.
Ist die Innenstadt jetzt zum Sorgenkind geworden, oder war sie das nicht eigentlich schon lange?
In ganz Deutschland stehen die Innenstädte vor einem Wandel. Corona war nur der Verstärker einer Entwicklung, die in fünf oder zehn Jahren sowieso gekommen wäre.
Tja, Corona. Beim Interview zu Ihrem Amtsantritt vor fünf Jahren haben Sie formuliert: „Wir gehen abends mit dem Thema Flüchtlingskrise ins Bett und wachen morgens damit auf.“ Muss man jetzt nur das Wörtchen „Flüchtlings-“ durch „Corona-“ ersetzen?
Also das ist schon eine verrückte Amtszeit gewesen, 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zu starten und jetzt seit fast einem halben Jahr in der Corona-Krise zu stecken – mit so weitreichenden Entscheidungen, von denen ich mir vor fünf Jahren gar nicht vorstellen konnte, dass dies in Deutschland überhaupt möglich
Zur Person
Als politisches Talent fand Thomas Kufen, 47, schon früh Förderer, davon kündet seine steile CDU-Karriere vom Parteieintritt mit 16 Jahren über den Rats-Einzug 1999 bis zum Fraktionsvorsitz zehn Jahre später.
Der gelernte Bürokaufmann war fünf Jahre Landtagsabgeordneter in Düsseldorf und anschließend Integrationsbeauftragter der Landesregierung NRW. Im Oktober 2015 löste Kufen den amtierenden Reinhard Paß (SPD) als Oberbürgermeister ab. Er ist verheiratet und lebt in Schönebeck.
wäre: mit Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Reise-, Religions- und Gewerbefreiheit. Ich kann viele verstehen, die voller Sehnsucht sagen: Ich möchte mein altes Leben wieder zurück. Ich gehöre auch dazu. Die Konzerte, das Engzusammenstehen, der Disco-Besuch – im Moment fehlt mir echt die Phantasie, mir vorzustellen, wann wir da wieder ankommen, solange es keinen Impfstoff, kein Medikament gibt. Das führt ja auch zu einer Polarisierung in der Gesellschaft, und es ist mit meine Aufgabe, immer auch zu schauen, wie wir den Laden zusammenhalten.
„Der Oberbürgermeister muss heute mehr denn je Krisenmanager sein“
„Den Laden zusammenhalten“ – genau so haben Sie Ihre zentrale Aufgabe 2015 in der Flüchtlingsfrage formuliert. Als der „Laden“, wie sie es sagen, aus ganz anderen Gründen auseinanderzufliegen drohte.
Genau, und vielleicht ist die Herausforderung jetzt viel größer als damals, weil die Betroffenheit eine ganz andere war. Damals haben sich jene gemeldet, die etwa in ihrem Umfeld keine Asyl-Unterkunft haben wollten. Jetzt treibt die Krise alle um: Viele Menschen sind in Kurzarbeit, Geschäftsmodelle funktionieren nicht mehr. Man macht sich existenzielle Sorgen oder trauert auch nur dem alten freiheitlichen Leben hinterher. Das macht wütend, es bilden sich Pole. Und da kommt es auf den Oberbürgermeister an, der muss heute mehr denn je Krisenmanager sein.
Sind Sie als solcher zufrieden mit sich?
Wir sind damals gut durch die Flüchtlingskrise und – wenn man sich die Infektionszahlen bei uns anschaut – auch gut durch die Corona-Krise gekommen. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung, aber allen Grund, auch in Maßen pragmatisch vorzugehen. Wir waren in Essen die ersten, die eine Messe wieder eröffnet haben, wir waren die ersten, die Parks zugänglich gemacht und ein großes Freibad aufgemacht haben. Und wir gehören zu denen, die sagen: Wir wollen einen Weihnachtsmarkt veranstalten. Vielen Läden beschert das Weihnachtsgeschäft schließlich 40 bis 50 Prozent des Jahresumsatzes. Natürlich muss das Konzept stimmen, denn ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der es heißt: Wer Angst hat, soll zuhause leiben. Es ist meine Aufgabe, das richtige Maß an Solidarität und Miteinander auszupendeln.
Welches Gefühl überwiegt momentan bei Ihnen persönlich: ein motivierendes „Wir schaffen das“ oder die Sorge, da könnte dauerhaft etwas zerbrechen?
Es gibt ganz viele Gelegenheiten, wo ich selber im Zweifel bin. Etwa wenn ich sehe, wie wir hadern, ob wir 5000 Leute bei Rot-Weiss Essen zulassen können, während Nachbarstädte Konzerte mit 13.000 Leuten genehmigen wollen. Wie die Städte agieren und manchmal auch die Stadtverwaltung Essen selber, das ist nicht widerspruchsfrei.
„Wie Contilia agiert und auch kommuniziert, finde ich gelegentlich fahrlässig“
Verschwinden hinter diesem Megathema Corona all die anderen wichtigen Punkte ihres ehrgeizigen Zwölf-Punkte-Planes? Von dem ist...
...längst noch nicht alles umgesetzt, das weiß ich. Deswegen trete ich ja auch wieder an (lacht). Diese Krise hat jedenfalls zwei zentrale Dinge noch einmal deutlich nach vorne gestellt. Erstens: Der Zusammenhalt
unserer Gesellschaft ist wichtig für das Miteinander in dieser Stadt. Und zweitens: Das Thema Gesundheit ist hochaktuell mit Blick auf den Essener Norden.
Gute Überleitung von Corona zu Contilia: Gefährdet der Kurs des katholischen Klinikbetreibers genau diesen Zusammenhalt zwischen dem Norden und dem Süden der Stadt?
Wie Contilia agiert und auch kommuniziert, finde ich gelegentlich fahrlässig. Darauf habe ich leider null Einfluss, was mich auch so fruchtig macht. Der Plan, zwei Kliniken in Altenessen und Stoppenberg zu schließen, mag aus einer inneren Contilia-Logik heraus nachvollziehbar sein, aber ich kann solche Entscheidungen doch nicht im luftleeren Raum treffen.
Es entspricht jedenfalls nicht der Stadt Essen-Logik, oder?
Die Symmetrie in unserer Stadt ist in der Tat eine andere. Und es gibt eine klare Erwartungshaltung auch der Politik.
Haben Sie sich deshalb mit ihrem Krankenhaus-Versprechen so weit aus dem Fenster gelehnt?
Ich glaube, jeder nimmt mir ab, dass ich für den Norden und die Gesundheitsversorgung dort kämpfe. Grundvoraussetzung ist, dass die Contilia ihre Strategie ändert und g e m e i n s a m mit uns etwas entwickelt, und das kann eben nicht nur ein Ärztehaus sein. Wenn ein Krankenhaus schließt, muss man sich sorgen, dass auch die restliche Gesundheits-Infrastruktur im Norden austrocknet – Ärzte, Therapeuten, Apotheken. Das kann doch nicht die Entwicklung sein, die ich als Oberbürgermeister querschreibe. Um am Ende noch zuzusehen, wie jemand nicht nur Kliniken schließt, sondern danach auch noch erwartet, dass die öffentliche Hand einen stattlichen zweistelligen Millionenbetrag an Fördermitteln locker macht, um genau den Plan umzusetzen, den wir in Essen alle nicht wollen. Also da muss ich sagen: Da bin ich nicht mit Contilia in einem Team.
„Meine Bilanz ist skandalfrei, das ist heute schon ein Wert an sich“
Es gibt Leute, die fürchten: Das macht der Kufen so lange, bis er gewählt ist.
Dann kennen die mich nicht. Ich hänge mich rein – mit der Bürgerschaft.
Das Klinik-Drama verstärkt das Nord-Süd-Gefälle. Wie kriegt man dieses Gefühl des „Wir sind denen ja eh egal“ wieder geradegebogen?
Diese Frage treibt mich auch um, weil ich zwischenzeitlich den Eindruck hatte, wir hätten das gut gehändelt. Jetzt kommen wieder alte Stereotypen hoch, dabei passiert im Norden so viel. Wir bauen dort eine nagelneue Gesamtschule, eine, die sich gerade auch dem Stadtteil öffnen soll. Außerdem hänge ich mich sehr bei Zollverein rein, weil ich glaube, das ist ein Kraftfeld im Norden, von dem wir auf vielfältige Weise profitieren
können: was Arbeitsplätze, Innovation und was Image angeht. Ich fühle mich dem Norden sehr verbunden und bin da auch rastlos. Dabei ist mir doch völlig klar: Entwicklungen, die wir heute beklagen, sind nicht über Nacht entstanden, sondern über viele viele Jahre und Jahrzehnte. Stadtentwicklung ist eine Dekadenaufgabe. Mit den Projekten „Freiheit Emscher“ auf den alten Bergbauflächen im Essener Norden und „Essen 51.“ im Krupp-Gürtel haben wir zwei Riesen-Asse auf der Hand. Aber die stechen noch nicht morgen oder übermorgen.
Wenn es denn für Sie eine zweite Amtszeit gibt – welche Fehler aus der ersten würden Sie gerne korrigieren?
Ach, na ja, Fehler. Ich finde das nicht schlimm, Fehler zu machen. Viele Kleinigkeiten sind darunter, aber insgesamt bin ich mit meiner Bilanz zufrieden. Und sie ist skandalfrei, das ist heute schon ein Wert an sich. Wir waren gut beschäftigt, und ich will mich selber daran messen, was die Zusammenarbeit der Kommunen untereinander angeht.
Bei der Ruhrbahn „sind wir längst nicht so weit, dass wir zufrieden sein können“
Die Ruhrbahn ist weiß Gott keine Erfolgsgeschichte.
Da sind wir längst nicht so weit, dass wir zufrieden sein können, das stimmt. Leider waren Bus und Bahn die großen Verlierer durch Corona, wir registrieren längst nicht das Fahrgastaufkommen wie vor der Krise. Dabei bildet ein funktionierender öffentlicher Nahverkehr das Rückgrat moderner Mobilität in einer Großstadt. Noch aber gilt zugespitzt, ohne dass ich da die Mitarbeiter angreifen wollte: Mit dem Nahverkehr im Ruhrgebiet kommst du überall hin, aber nicht mehr zurück.
Ihr Versäumnis, da nicht genug Druck gemacht zu haben?
Wir haben ja schon bei der Bewerbung zur Grünen Hauptstadt bescheinigt bekommen, dass unser Nahverkehr und auch das Radwegesystem nicht so gut sind, wie sie sein könnten. Insofern arbeiten wir sehr konsequent daran.
Ah, klingt nach „Machen“, dem Zauberwort dieses Wahlkampfs.
Ich bin überrascht, dass jetzt alle „Machen“ propagieren und gar nicht mehr gesprochen werden soll. Das ist nicht mein Politikstil, ich finde reden auch sehr wichtig. Vor allem miteinander. Und weniger übereinander.