Essen. Kinderschützer schlagen Alarm: Angebote zur Prävention von Missbrauch seien in Gefahr. Spenden brächen ein, staatliche Zuschüsse seien zu gering.

Kinderschützer und Kinderärzte in Essen kritisieren, dass wichtige Angebote zur Verhinderung von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung fast ausschließlich über Spenden finanziert würden und dadurch jetzt in Gefahr geraten. „Wir erleben gerade, dass das Spendenaufkommen coronabedingt zusammenbricht“, sagt der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes, Ulrich Spie. Wichtige Einrichtungen seien so kaum zu halten. Der Kinderschutzbund im benachbarten Mülheim müsse seine Beratungsstelle gegen Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch zum 30. Juni schließen.

Kinderschutzbund Essen erhielt zwei Monate lang keine einzige Spende

Nach den schweren Missbrauchsfällen in Lügde und Münster werde überall nach Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt gerufen, „aber die vorhandenen Angebote werden nicht finanziert“, ärgert sich Spie. „Dabei haben wir alles vom Präventionsprojekt ,Mein Körper gehört mir’ bis zum Kinderschutz-Zentrum.“

Seit Jahren weise man darauf hin, dass das Essener Zentrum mit den öffentlichen Zuschüssen nicht auskömmlich betrieben werden könne. Die Kinderschutzarbeit dort reiche von der Erziehungsberatung über die Erkennung von Kindeswohlgefährdungen bis zur Beratung von pädagogischen Einrichtungen. Die Fachkräfte trügen auch dazu bei, sexuelle Gewalt zu erkennen und zu verhindern. „Es ist merkwürdig, dass eine so wichtige Arbeit von Spenden und Stiftungsgeldern abhängt.“

In Sorge: Der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes, Ulrich Spie, beklagt einen völligen Zusammenbruch des Spendenaufkommens. Wichtige Angebote seien gefährdet.
In Sorge: Der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes, Ulrich Spie, beklagt einen völligen Zusammenbruch des Spendenaufkommens. Wichtige Angebote seien gefährdet. © FUNKE Foto Services | Thomas Goedde

Spie lobte ausdrücklich, dass das NRW beherzt auf den Missbrauchsskandal in Lügde reagiert und die Polizeiarbeit erfolgreich intensiviert habe. Stadt und Land dürften aber auch die Kinderschützer vor Ort nicht allein lassen, das gelte in der Corona-Krise umso mehr.

„Der Kinderschutzbund Essen hat in den Monaten April und Mai Null Spenden erhalten“, sagt Spie. Er verstehe, dass die Bürger jetzt andere Sorgen hätten und Unternehmen, die ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt hätten, keine Spenden tätigen könnten. „Aber wir müssen darum die Schließung und den Rückbau von Angeboten vorbereiten.“

Von der Stadt gebe es keinen Zuschuss für die Ärztliche Beratungsstelle

Ähnlich äußert sich der Kinderarzt Dr. Ulrich Kohns von der Ärztlichen Beratungsstelle (ÄB) gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern. „Wir erhalten einen Landeszuschuss von 17.000 Euro, den Rest müssen wir über Spendengelder erbringen.“ Die ÄB in Essen besteht bereits seit 1983, seither habe man sich immer wieder um eine Förderung durch die Stadt bemüht - vergeblich. Die Schreikind-Ambulanz, die eine wichtige Rolle bei der Gewaltprävention spiele, müsse völlig durch Spenden getragen werden.

Rat und Hilfe für vernachlässigte oder misshandelte Kinder

Die Ärztliche Beratungsstelle (ÄB) gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern e.V. sitzt an der I. Weberstraße 28 in Essen. Sie kooperiert mit dem Kinderschutz-Zentrum des Kinderschutzbundes an der selben Adresse. Infos/Kontakt zur ÄB unter 0201-23 66 11 oder per Mail:

Der Kinderschutzbund Essen ist einer der größte Ortsvereine bundesweit. Er betreibt Lernhäuser, Kitas, Beratungsstellen, Kindernotaufnahmen und andere Einrichtungen im ganzen Stadtgebiet. Der Kinderschutzbund versteht sich auch als Stimme der Kinder und Lobby für Familien. Infos auf: https://www.dksb-essen.de/startseite

Kohns gesteht der Stadt zu, dass sie eigene gute Angebote von der Erziehungsberatung bis zum Jugendpsychologischen Institut habe; man arbeite auch vertrauensvoll mit dem Jugendamt zusammen. Aber die ÄB habe ein Alleinstellungsmerkmal: „Das ist eine Anlaufstelle ohne Behörde: niedrigstschwellig, der Schweigepflicht unterliegend und mit der Möglichkeit, sich anonym beraten zu lassen.“

Die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern, sei besonders niedrigschwellig, sagt der Essener Kinderarzt Dr. Ulrich Kohns.
Die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern, sei besonders niedrigschwellig, sagt der Essener Kinderarzt Dr. Ulrich Kohns. © WAZ | Arnold Rennemeyer

Vielen Menschen falle es schwer, sich mit persönlichen Schwierigkeiten ans Jugendamt zu wenden; und es gebe auch Erzieher, Lehrer oder Nachbarn, die sich scheuten, dort etwa einen Verdacht auf Missbrauch zu melden. „Wir senken die Hemmschwelle: Auch wer nur ein Bauchgefühl hat, kann sich an uns wenden.“ Werde ein Verdacht zur Gewissheit, könne man weitere Schritte mit dem Jugendamt einleiten. Die Ärztliche Beratungsstelle liefere dann auch eine gerichtsverwertbare Diagnostik.

Kinderschutzbund musste seine Lernhäuser schließen

Die ÄB arbeitet eng mit dem Kinderschutz-Zentrum des Kinderschutzbundes zusammen, beide Angebote sollen selbstverständlich erhalten bleiben, versichern Kohns und Spie. Doch der Kinderschutzbund mit seinen 350 Mitarbeitern (die Hälfte in den Kitas) hat eine Haushaltssperre erlassen, in einigen Bereichen Kurzarbeit anmelden müssen und die fünf Lernhäuser geschlossen, in denen gut 150 Kinder Hausaufgabenhilfe erhalten.

Die im Frühjahr geplante Eröffnung des sechsten Lernhauses auf Zollverein, habe man auf unbestimmte Zeit verschieben müssen, sagt Ulrich Spie. Dabei seien die Lernhäuser angesichts der wochenlangen Schulschließungen gerade jetzt wichtig.

Doch bei einem Spendenbedarf von knapp 500.000 Euro pro Jahr, habe ein monatelanger Ausfall von Spenden schmerzliche Folgen für den Kinderschutz. „Für die nächsten beiden Jahre mache ich mir große Sorgen.“