Essen. . Immer mehr Kleinstkinder landen in der Notaufnahme des Kinderschutzbundes. Viele kämen mehrfach, weil Pflegefamilien mit ihnen überfordert seien.

Mit Sorge beobachtet der Essener Kinderschutzbund, dass immer mehr Kinder unter drei Jahren Opfer von Gewalt und Vernachlässigung werden. Offenbar sei bei manchen Eltern „die Hemmschwelle gesunken“, sogar Babys zu misshandeln, sagt der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes, Ulrich Spie. Gleichzeitig sei es eine große Verantwortung, für so kleine Kinder die richtige Unterbringung zu finden, in der sie nicht neuen Gefahren ausgesetzt seien.

So war im Januar ein 18 Monate alter Junge in einer Pflegefamilie in Plettenberg so schwer verletzt worden, dass er später im Krankenhaus verstarb. Solche Fälle sorgten immer wieder für Entsetzen und große öffentliche Anteilnahme, verstellten aber mitunter den Blick für die Gesamtdimension des Problems, sagt Spie. „Bundesweit werden wöchentlich 100 Babys in Obhut genommen.“ Und von den 96 Kindern, die der Kinderschutzbund im vergangenen Jahr in seinen beiden Notaufnahmen betreut hat, waren 53 unter fünf Jahre alt.

Weil sie besondere Zuwendung und feste Bezugspersonen brauchen, werden Kleinstkinder in der Regel nicht in Heime vermittelt, sondern in Bereitschaftspflegefamilien. Doch die seien mit den hochbelasteten Kindern oft überfordert, so dass diese mitunter zwischen Pflegefamilien und Heim hin- und hergeschoben würden und weitere verunsichernde Erfahrungen machten. „Es gibt Kinder, die zum dritten Mal bei uns in der Notaufname landen.“

Über 600 Kinder in Essen leben in Pflegefamilien

Um den Kindern solche Wechsel zu ersparen, hat der Essener Kinderschutzbund vor zwei Jahren – als Ergänzung zu seiner Notaufnahme „Spatzennest“ – die „Kleinen Spatzen“ in Borbeck eröffnet. Hier würden Babys und Kleinkinder bis zu drei Jahren nicht nur von Pädagogen oder Sozialarbeitern betreut, sondern von Kinderkrankenschwestern und Psychologen. „Und zwar mit einer Eins-zu Eins-Betreuung wie in einer Familie.“ In den ersten Tagen, nachdem ein Kind in Obhut genommen werde, gehe es vor allem um die medizinische Versorgung, um Arztbesuche und gerichtsverwertbare Informationen. „Das können Profis besser leisten als Bereitschaftspflegefamilien“, glaubt Spie. Er biete dem Essener Jugendamt daher an, dass die „Kleinen Spatzen“ zu einer Clearingstelle für diese erste Phase würden, bevor die Kinder in Familien weitervermittelt werden.

Der zuständige Dezernent Muchtar Al Ghusain signalisierte bei einer Pressekonferenz am Mittwoch Bereitschaft, den Vorschlag zu prüfen. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Stadt auf die wichtige Arbeit der Pflegefamilien angewiesen sei: „In Essen betreuen rund 500 Pflegestellen derzeit mehr als 600 Kinder.“ Dass diese oft lange in Ungewissheit lebten und keine stabilen Bindungen aufbauen könnten, liege auch an den oft langwierigen Verfahren vor den Familiengerichten, sagte Jugendamtsleiter Ulrich Engelen. „Kaum ein Verfahren dauert unter einem Jahr. Welche Pflegefamilie, die dem Kind auf Dauer ein Zuhause geben möchte, macht das schon mit?“

Manche Kinder haben fünf Stationen durchlaufen

Er erlebe in seiner Praxis oft Kinder, die schon fünf bis acht Stationen durchlaufen hätten, deren Hoffnung auf Bindung immer wieder enttäuscht worden sei, sagt der Direktor der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jörg M. Fegert, der am Mittwoch beim Essener Kinderschutzbund zu Gast war. Anders als man landläufig oft annehme, sei keineswegs „das ganze Leben vorbei“, wenn ein Kind Gewalt oder Vernachlässigung erlebt habe. „Die Kinder haben oft starke Selbstheilungskräfte, aber wir müssen ihnen helfen, damit sie später dazugehören können.“

Deswegen sei es so wichtig, passgenaue Schutzkonzepte zu finden. Es könne durchaus sein, dass ein schwer traumatisiertes Kind in einem Heim besser aufgehoben sei als in einer Bereitschaftspflegefamilie. Andererseits seien die Kinder in großen Einrichtungen auch Gefahren ausgesetzt: „Fünf Prozent werden erstmals im Heim missbraucht.“ Auch weil andere Kinder mit traumatischen Erfahrungen zu Tätern werden.