Essen.

Seit Jahren steigt die Zahl der Kinder, die zeitweilig oder auf Dauer aus ihren Familien genommen werden. Die Notaufnahme des Kinderschutzbundes, das „Spatzennest“, bietet Jungen und Mädchen seit 25 Jahren ein Zuhause auf Zeit.

Es ist ein Fest, das mit gemischten Gefühlen gefeiert wird. Das macht Oberbürgermeister Reinhard Paß in seiner Gratulation klar: „Ich komme mit einem lachenden und einem weinenden Auge.“ Die Kindernotaufnahme „Spatzennest“ hat anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens eingeladen, und Paß würde nun sehr gerne sagen, „dass wir diese Einrichtung nicht brauchen“.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Seit Jahren steigt die Zahl der Kinder, die zeitweilig oder auf Dauer aus ihren Familien genommen werden, weil die Eltern sich nicht um sie kümmern, sie schlagen oder missbrauchen. In Essen zählte man im vergangenen Jahr 200 solcher Inobhutnahmen von Kindern unter 14 Jahren, 20 Plätze für Kinder zwischen zwei und 12 Jahren hat das „Spatzennest“. Das Haus biete ihnen Schutz und Geborgenheit, sagt Paß und lobt den Deutschen Kinderschutzbund, der die Notaufnahme gegründet hat und bis heute trägt, als „verlässlichen und wichtigen Partner der Stadt“.

„Ungutes Gefühl, sie am Wochenende in ihren Familien zurückzulassen“

Dies ist eine Anerkennung, die längst allgemein geteilt wird. Doch Achim Middelschulte, der Vorsitzende des Kinderschutzbundes in Essen, erinnert daran, „dass damals viele sagten, der Kinderschutzbund weckt ja erst den Bedarf, eine Kindernotaufnahme ist nicht notwendig.“ Mitte der 80er Jahre habe es keinen Notdienst beim Jugendamt gegeben, „aber Kinder in Krisensituationen gab es“.

Es sollte sich zeigen, dass diese Zeit ebenso wie der Platz zu knapp bemessen war. Zahlreiche Sponsoren und Spender ermöglichten 1998 den Umzug des „Spatzennestes“ in großzügige Räumlichkeiten in Altenessen-Nord, vor fünf Jahren kam ein weiteres Haus hinzu. Nun finden hier 20 Kinder ein Zuhause auf Zeit.

„Wir haben Zweijährige, die nicht laufen können“

„Wir haben Zweijährige, die nicht laufen, nicht sprechen, nicht mal kauen können, weil sie nur Brei bekommen haben.“ Andere Kinder trügen Verletzungen an Körper und Seele. Bis sie versorgt, getröstet, stabilisiert sind, bis geklärt ist, ob sie zu den Eltern zurückkehren können oder in Pflegefamilien kommen, vergeht Zeit: Viele bleiben sechs Monate, manche ein ganzes Jahr.

Martina Heuer selbst hat ihr halbes Leben im „Spatzennest“ verbracht: Die 52-Jährige leitet die Notaufnahme von Anfang an. Sie hat das Leid vieler Kinder gesehen, aber sie spricht lieber vom Humor, ohne den ihre Arbeit nicht möglich wäre. Ja, manchmal bleibe beim Abschied ein mulmiges Gefühl, weil ein Kind in eine schwierige Situation zurückkehre. Oft jedoch gehe es gestärkt, und mancher Schützling besucht sie viele Jahre später: „Der eine erzählt vom Abi, der andere hat eine Lehre gemacht, wieder andere bringen die eigenen Kindern mit.“ Wie viele Kinder sie begleitet hat? Martina Heuer weiß es nicht, aber: „Ich kenne von allen die Namen.“