Essen. Im Interview spricht Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck über den „sozialen Klimawandel“, den „Shitstorm“ gegen seine Haltung in der Flüchtlingsfrage und die „Reifeprüfung“ für Deutschland.

Herr Bischof, „sie gebar ihren Sohn im Zeltdorf an der Planckstraße, weil in der Essener Herberge kein Platz für sie war“. Geht’s Ihnen auch so, die Weihnachtsgeschichte war einem noch nie so nah wie jetzt?

Overbeck: Die großen sozialen Nöte unserer Region habe ich Tag für Tag vor Augen. „So nah wie nie“ – wenn ich das angesichts der Flüchtlingskrise sagen würde, wäre das all den vielen anderen Nöten gegenüber sehr ungerecht.

Aber die Christen erzählen zu Weihnachten eine Geschichte aus dem Nahen Osten, „als Quirinus noch Statthalter von Syrien war“. Und man denkt: Syrien, mein Gott, wir sind mittendrin.

Flüchtlingskrise: Zwölf Interviews, zwölf Blickwinkel

Bislang veröffentlichte Folgen unserer Interviewserie zur Flüchtlingskrise in Essen. Weitere Interviews folgen.

Deshalb wird die Herbergssuche das Motiv meiner ersten Weihnachtspredigt in der heiligen Nacht sein. Im Nahen Osten, wo Judentum, Christentum und Islam ihren Ursprung haben, erleben wir so etwas wie einen Stellvertreterkrieg für die großen Auseinandersetzungen, die uns im Weltmaßstab beschäftigen. Das geht uns nicht nur nahe, sondern rückt uns im warmen Deutschland regelrecht auf die Pelle. Wobei für mich gilt – um ein anderes geflügeltes Wort zu wiederholen – wir schaffen das.

Warum sind Sie sich da so sicher?

Weil das eine der Reifeprüfungen ist, die wir als Deutsche machen. Nachdem wir der Welt vor nicht langer Zeit wenig ruhmreich vorexerziert haben, was es heißt zu kämpfen, werden wir jetzt zeigen, was es bedeutet zu helfen.

"Die Flüchtlinge ändern sich, wir ändern uns"

Aber die Flüchtlingswelle scheint kein Ende zu nehmen, und mancher sorgt sich, ob wir uns da nicht überschätzen – finanziell, organisatorisch, auch emotional. Finden Sie diese Bedenken zu kleinmütig?

Ich habe schon beim Caritassonntag gesagt: Die Flüchtlinge ändern sich, wir ändern uns. Und wer nicht bereit ist, sich zu ändern, wird natürlich nicht nur mit Angst und Sorge reagieren, was ich wirklich gut verstehen kann. Der wird auch glauben, wir seien dazu nicht imstande.

Und unsere „Reifeprüfung“...

...bestehen wir, wenn wir wissen, dass wir diesen Zeiten moderner Völkerwanderung mit einer neuen Form von Integrations- und Willkommenskultur gegenüberstehen müssen. Und nicht mit Tendenzen, sich abzuschotten. Ich weiß, dass das für viele Menschen eine Zumutung ist.

Mancher mag gehofft haben, wir bauen ein paar Asylheime, reichen gut erhaltene Klamotten rüber, geben was in den Klingelbeutel, und danach geht es weiter wie bisher.

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Genau das wird so nicht passieren. Von daher verstehe ich die Ängste und die Neigung zu politischen Bewegungen und Glücksversprechern, die glauben, wir könnten diese alten Zustände wiederherstellen. Die Wanderungsbewegungen, die wir jetzt von Syrien, Irak, Afghanistan und Pakistan erleben, werden uns auch noch mal von Afrika erreichen – als Folge des so genannten arabischen Frühlings, den wir ja alle eher mit Jubel verfolgt haben. Das bedeutet auch, dass wir hohe Zinsen zahlen müssen – für eine verfehlte Politik, aber auch für eine sehr auf unseren eigenen Wohlstand konzentrierte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Welt wird komplexer, das bedeutet für viele eine Heraus- aber auch eine Überforderung. Aber dann darf man erst recht nicht Sirenen folgen, die glauben, Vereinfachung wäre die Lösung der Stunde.

Kritik an Textil-Discountern und Konsumenten

Die komplexe Welt zeigt sich oft ganz einfach: Wenn Sie in einem großen Textil-Kaufhaus gegenüber dem Dom eine Hose für elf Euro kaufen können, ahnt doch jeder, dass der Preis kaum fair zustande kam.

Und doch sind viele in unserer Gesellschaft erstaunt, wenn sie merken, welchen Preis wir dafür bezahlen, dass wir schon lange auf Kosten anderer leben. Wenn ich am Wochenende die Tüten eines bestimmten Textil-Discounters und anderer Warenhäuser aufsammle, denke ich auch: Na, wie viel Mühe und ungerechter Lohn steckt da drin? Das beschäftigt uns schon seit den 1970er Jahren. Und es hat 40 Jahre gedauert, bis es nun zu einem Megathema für alle wurde. Unser Wohlstand ist ein Segen, aber wir werden jetzt zu Recht von denen gefragt, auf deren Kosten er aufkam: Was zahlt ihr auf Dauer?

Geht es also, wie Roland Koch es formuliert hat, in Wahrheit allein um die Frage, ob wir „bereit sind, unseren Gemütlichkeitsbauch anknabbern zu lassen“?

Das gilt sicher nicht für alle Menschen in unserer Gesellschaft, denn es gibt diese Schicht, die wirklich arm ist und wenig hat bis gar nichts. Aber einen großen Teil trifft das.

Und? Sind wir denn bereit?

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Wenn ich sehe, mit welcher Hilfsbereitschaft ganz viele Leute sich zum Beispiel der Flüchtlinge annehmen, dann ist die weit überwiegende Mehrheit bereit – und tut auch schon viel. Ich sehe aber auch die anderen, die eher ängstlich und skeptisch sind. Und es gibt natürlich den Teil, der all dem ablehnend gegenüber steht. Dabei haben wir hier in unserer Region noch die allerwenigsten Probleme, was Akzeptanz angeht und das Gefühl, was tun zu müssen.

"Wir werden von einer Volkskirche zu einer Kirche im Volk"

Unter den ablehnenden sind auch viele Christen. Enttäuscht?

Mich macht das ausgesprochen nachdenklich, weil das Bibelmotiv der Herbergssuche für alle gilt. Aber auch hier zeigt sich eben: Wir werden von einer Volkskirche zu einer Kirche im Volk, und es klären sich viele Motive, w a r u m Menschen glauben und unter welchen Bedingungen sie es können.

Und man findet kaum einen, der in dieser Frage unentschieden ist.

Nein, gar keinen. Alle haben eine Meinung zum Flüchtlingsthema.

Woher kommt diese Entschiedenheit, woher manchmal die Schärfe?

Wenn sich die sozialen Lebensumstände des Alltags aus welchem Grund auch immer so radikal ändern, ist logisch, dass sich alle damit beschäftigen. Gott sei Dank! Keiner ist ungerührt, keinen lässt das kalt, wenn Menschen in Not kommen. Das ist schon mal gut.

"Shitstorm" gegen den Ruhrbischof und seine Mitarbeiter 

Aber lästig. Ihre Forderung, dass auch wir uns ändern müssen, hat ein riesiges Echo ausgelöst

Dass wir uns ändern müssen, wenn wir mit den Entwicklungen Schritt halten wollen, ist für mich erst einmal eine ganz normale Erkenntnis. Aber mich hat in der Tat sehr nachdenklich gestimmt, von welcher Seite und mit welcher Vehemenz, mit welchen Unterstellungen und Wortverdrehungen reagiert wurde, um selber eine politische Aussage platzieren zu können.

Sie haben, das sagen wir jetzt, damit Sie’s nicht tun müssen: einen regelrechten „Shitstorm“ erlebt. Wie Sie und Ihre Mitarbeiter da angegangen wurden – ohne Beispiel bislang?

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Naja, ich bin bei manchen meiner Äußerungen kritische Reaktionen gewohnt. Und es gab ja auch viel Unterstützung, quer durch die Bank. Ich weiß mich in allerbester Gesellschaft nicht nur vieler Menschen, mit denen ich hier lebe, sondern in der besten Gesellschaft die man haben kann, mit Papst Franziskus.

Aber dass sich so viele im Ton vergreifen, dass selbst Mandatsträger poltern: „Fuck this guy...“

...das ist absolut unangemessen. Es macht mich nachdenklich und entsetzt. Aber das ist der Preis einer freien Gesellschaft.

Bischof wird keinen „Hate Poetry“-Abend veranstalten

Und Sie werden keinen „Hate Poetry“-Abend veranstalten und aus den schäbigsten Briefen vorlesen?

(lacht) Nicht wirklich, nein.

Aber versuchen, ins Gespräch zu kommen? Oder sagen Sie: Da ist Hopfen und Malz verloren?

Ich rede mit jedem unter der Voraussetzung, dass es mit Anstand geht. Wenn der andere die Argumente nicht einsehen mag oder sie in sein Konzept der Lebensdeutung nicht integriert, ist das zu tolerieren.

Und doch, der Ton wird rauer, viele positionieren sich neu, wie diese oft gehörte Floskel zeigt: „Ich bin zwar nicht ausländerfeindlich, aber...“

Und wieder ist das die Angst. Unsere Herausforderung liegt auch darin zu diskutieren, wie wir uns als Wertegemeinschaft verstehen. Gerade angesichts der Herausforderungen des Islamischen Staates werden wir daran erinnert, uns positiv zu bestimmen: Was trägt uns?

Overbeck fordert eine kluge Innenpolitik

Gute Frage. Es ist noch keine Ewigkeit her, da wurden gerade in den Gemeinden des Ruhrbistums Lebensmittelpakete für Polen gepackt. Ausgerechnet in Polen aber vermisst man jetzt Solidarität mit den Flüchtlingen.

Das gründet wohl im Glauben, man könnte die Entwicklung wie ein Schlechtwettergebiet überstehen, indem man sich abschottet von all den Veränderungsprozessen, und danach scheint wieder die Sonne über der alten Welt. Aber wir befinden uns nicht in einem Schlechtwettergebiet, sondern in einem Klimawandel – nicht nur beim Wetter, sondern auch im Blick aufs Soziale.

Was also tun?

Eine große Aufgabe wird jetzt sein, kluge Innenpolitik zu betreiben, die deutlich macht, wo wir uns als eine offene Gesellschaft zu verstehen haben. Außerdem müssen wir denen helfen, die an Leib und Seele bedroht sind, und müssen aber auch denen, die zuhause ihre Zivilgesellschaft mit aufbauen können und trotzdem herkommen, sagen: Geht zurück. Nicht zu vergessen: Hier im Ruhrbistum gibt es so viele Arme und Bedrängte und so viele, die echte Not haben, und zwar schon lange. Denen werden wir weiter beistehen müssen.

Und die Herbergssuche...

...bleibt ein Weltmotiv. Ehrlich gesagt: Gott sei es geklagt.

"Flüchtlingsströme werden zum Zeichen des 21. Jahrhunderts"

Fürchten Sie nicht, dass – wenn die Flüchtlingswelle anhält – Sie ihre Position noch mal korrigieren müssen? Aus praktischen Erwägungen?

In der Tat: Die praktischen Erwägungen, die Frage der Kapazitäten, sind ein realistisches Maß, aber nicht das Maß von allem. Hinzu kommt die Stimmung der Bevölkerung. Und das dritte: Wir müssen trotzdem eine Gesamtverantwortung wahrnehmen, die größer ist, als das, was heute und morgen zu sehen ist. Flüchtlingsströme werden zum Zeichen des 21. Jahrhunderts.

Und kein Weg zurück?

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Ich hoffe, dass es neben der klugen Innenpolitik im Blick auf die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre Integration eine kluge Militärpolitik gibt, präventiv tätig zu werden. Und dass eine Außenpolitik betrieben wird, die eine heimatnahe Unterbringung der Flüchtlinge unterstützt. Wir müssen viel mehr investieren als bisher, damit die Leute in ihrer Region bleiben und schneller nach Hause zurückkehren können, als wenn sie tausende Kilometer weit weg sind.

Das hat die heilige Familie auch getan.

So ist es, das gehört genauso in die Verantwortung der Politik.

Und am Ende ist Ihre christliche Grundüberzeugung: Alles wird gut?

Am Ende steht meine Überzeugung, dass das Evangelium und das Menschenbild, das dahinter steht, uns auf jeden Fall dazu befähigen, die Probleme und Herausforderungen zu bewältigen.

Das Gespräch mit Bischof Overbeck führte Wolfgang Kintscher.