Duisburg-Bergheim. Vor der Gebietsübertragung für den Brückenneubau an der Cölve denken Historiker über die Beule im Grenzverlauf zwischen Duisburg und Moers nach.

Es gibt Dinge, die locken keinen Historiker hinter dem Ofen hervor. In der Nachbarstadt Moers winkt Joachim Beinicke beim Thema Grenzen zunächst ab: langweilig! Unerheblich!! Und obendrein undurchsichtig, also meistens. Da sind die natürlichen Gegebenheiten, Flüsse etwa, Täler oder Berge, die Gebiete wie Gemeinden, Dörfer, Städte zwangsläufig beschränken. Oder Wege, im Laufe der Jahrhunderte erlaufen, weil viele Menschen von hier nach dort wollten, etwa in die Kirche oder zum Markt. So in etwa entstanden Grenzen. Aber wen, fragt Beinicke, interessiert das?

Und warum?

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In diesem Fall lässt sich das schnell erklären. Es liegt an der Cölve-Brücke, jenem maroden Brücklein zwischen Duisburg-Trompet und Moers-Schwafheim, dessen trauriges Schicksal zuletzt auch jenseits sämtlicher Stadtgrenzen für Schlagzeilen sorgte. Im Oktober 2021 musste es abgerissen werden. Ein vermeidbares Los. Lange hatte die Brücke darunter gelitten, dass sie geografisch zu Moers gehört, wo sie ein stiefmütterliches Dasein fristete. Reparaturen wurden ausgesessen, was aber nur die Duisburger ärgerte, die den Überweg im Gegensatz zu den Moersern brauchten und brauchen.

Durch die Gebietsübertragung von Moers nach Duisburg soll künftig alles anders laufen

Das soll künftig anders laufen. Für einen Neubau will Duisburg in Eigenregie sorgen. Und hierfür ist es erforderlich, ein Stück Moers zu übertragen. Aktuell liegt der Vorgang bei der Bezirksregierung in Düsseldorf. Die Zustimmung gilt als gesetzt, angekündigt für Februar.

Das Gebiet, um das es geht, ist klein, etwa 22.000 Quadratmeter, wie SPD-Ratsherr Reiner Friedrich schätzt. Er ist so etwas wie der Vater der Gebietsübertragung; der Bergheimer Politiker regte diesen Schritt 2017 an, als Lösung für das leidige Brücken-Problem. Eine Änderung des Grenzverlaufs bietet sich an. Schon aus - optischen Gründen. Friedrich sagt es anders. „Da ist keine Logik drin.“

Am 24. November 2021 wurde an der abgerissene Brücke noch einmal für einen Behelfsbau demonstriert. Seit Jahren setzt sich die IG-Cölve für eine Lösung ein. Die Bergheimer brauchen die Brücke- im Gegensatz zu den Menschen in Moers.
Am 24. November 2021 wurde an der abgerissene Brücke noch einmal für einen Behelfsbau demonstriert. Seit Jahren setzt sich die IG-Cölve für eine Lösung ein. Die Bergheimer brauchen die Brücke- im Gegensatz zu den Menschen in Moers. © FUNKE Foto Services | Arnulf Stoffel

Auf Karten fällt sie gleich ins Auge: eine Ausbuchtung, die den ansonsten eleganten Schnitt zwischen Duisburg und Moers jäh unterbricht. Ein bisschen so, als hätte sich der damalige Mitarbeiter des Katasteramtes vor der Zeichnung anno dazumal ordentlich einen genehmigt und wäre dann mit dem Stift verrutscht. Nun, ohne zu viel verraten zu wollen. So ist es nicht gewesen. Aber wie war es sonst? Reiner Friedrich jedenfalls muss passen. „Das hat sicher etwas mit den alten Grundstücksverhältnissen und dem Wegerecht zu tun.“

Eine Spurensuche in den beiden Städten Moers und Duisburg

Der Beginn einer Spurensuche, die von Archivaren beider Städte über die Interessengemeinschaft Cölve-Brücke und Duisburger Heimathistoriker des Freundeskreises Lebendige Grafschaft Friemersheim bis zu einem Moerser Kollegen führte. Konkret: zu Joachim Beinicke, Ahnenforscher und Hobbyhistoriker mit einem Kartenfundus wie für eine Weltumseglung.

Also, Herr Beinicke, wie kam es zu dem Zipfel Duisburg im Moerser Grenzverlauf?

Der Moerser Heimatforscher und Heimatkundler Joachim Beinicke im Arbeitszimmer seines Hauses.
Der Moerser Heimatforscher und Heimatkundler Joachim Beinicke im Arbeitszimmer seines Hauses. © FUNKE Foto Services | Arnulf Stoffel

Kein Zipfel. Von der Form her eher eine Jakobinermütze, sagt Beinicke. Eins stellt er gleich zu Anfang klar. Grenzen entstehen über eine sehr lange Zeit hinweg. Und wieso - das lässt sich in den meisten Fällen schlicht nicht mehr ermitteln.

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Nun, auf einen Versuch kommt es an. Die Suche führt zurück ins späte 18., frühe 19. Jahrhundert. Deutschland war noch nicht Deutschland, sondern bestand aus Kleinstaaten, die den bereits bröckelnden Verbund des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation bildeten. Ländereien waren im Besitz der Stände, im wesentlichen Grafschaften und die Kirche. Lokale Quellen der Zeit sind lückenhaft. Herrscher kamen und gingen. Die Gründung der Stadt Rheinhausen 1934 lag noch Lichtjahre entfernt.

1810 gehörte das Gebiet definitiv zur ehemaligen Bürgermeisterei Hochemmerich

Einiges kann Beinicke mit Gewissheit sagen. So war das Gebiet, um das es heute geht, unbewohnt. Dem Anschein nach zählte es zu den Allmenden, war also herrenloses Land, Gemeinschaftsbesitz. 1810 gehörte es jedenfalls definitiv zur ehemaligen Bürgermeisterei Hochemmerich.

Das zeigt eine sehr detaillierte Karte des frühen Moerser Geometers und Landvermessers A. Brix: Im Süden ist der Schwafheimer Bruchkendel erkennbar, heute Rumelner Bach - eine natürliche Grenze. Im Westen verläuft die damals Hochstraße genannte Römerstraße - und die bildete die Grenze zwischen Moers und Hochemmerich. So ist es ausdrücklich vermerkt. In den folgenden Jahrzehnten muss das Stück Land dann irgendwie zu Moers gelangt sein, „zwischen 1816 und 1830“, legt Beinicke sich fest. Wie es dazu kam, kann er nur schlussfolgern. Unterstützung erhielt er dabei vom Forscherkollegen Norbert Hartmann, ebenfalls Moerser.

Die preußische Verwaltungsorganisation und Friedrich der Große

Die beiden vermuten einen Zusammenhang mit der preußischen Verwaltungsorganisation. Schon vor dem Krieg mit Frankreich hatte es Bestrebungen gegeben, das Land zu ordnen; 1782, kurz vor seinem Tod, hatte Friedrich der Große verfügt, die Anteile der Allmenden festzulegen.

Die Ländereien sollten parzelliert und verteilt werden, um die ewigen Streitereien zu beenden. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen. Die Bemühungen wurden durch die Herrschaft Napoleons unterbrochen und 1816, nach dem Wiener Kongress, erneut aufgenommen. Damals entstanden auch die ersten Katasterkarten. Und: Erstmals durften auch einfache Leute Land erwerben.

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1830 war die Aufteilung der Allmenden abgeschlossen. Und ein bisheriges Stück Hochemmerich gehörte nun zur Stadt- und Landgemeinde Moers. Beinicke: „Wohl als Ausgleich für die Aufgabe von Rechten an anderer Stelle.“ Und danach hat sich nie wieder jemand um die Angelegenheit gekümmert. „Im Grunde ist das ein Knüller. Das war ursprünglich gar nicht Moers. Das weiß nur keiner mehr.“ „Die kommunale Neugliederung in den 1970er Jahren hat sich an den bestehenden Gebietsgrenzen orientiert“, bestätigt Alena Saam vom Moerser Stadtarchiv.

Also von wegen langweilige Grenzen.

Trotzdem bleibt einiges rätselhaft, gibt es über die Gründe für den beuligen Grenzverlauf nur Vermutungen. Hierzu hat auch Andreas Pilger vom Duisburger Stadtarchiv alte Karten verglichen. Die aus heutiger Sicht willkürliche Grenzziehung stimmte zumindest im Norden ursprünglich mit dem Verlauf der Bindestraße überein, sagt er. Diese, eine der ältesten Straßen der Region, besteht zum Teil immer noch. In früheren Zeiten überquerte sie die Bahn und das vermutlich bis ins späte 19. Jahrhundert hinein. „Die Bindestraße führte wohl ursprünglich bis Bergheim und von da aus ging es zur Kirche in Emmerich“, kann sich Beinicke vorstellen.

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Historiker datieren den Bau der Cölve-Brücke auf das Jahr 1911

Die Industrialisierung nahm ihren Lauf. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Ortschaften angebunden. 1845 war die einspurige Bahnlinie in Trompet fertig geworden, 1848 wurde sie in Gänze in Homberg eingeweiht. Als der Bahnverkehr auch mehrgleisig zunahm, wurde zur Verkehrssicherheit eine Brücke über die Gleise notwendig. Als Entstehungsdatum der Cölve-Brücke vermuten die Historiker das Jahr 1911.

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Nun ist die Brücke schon wieder Geschichte. Und alles wird rückgängig gemacht. Wobei auch das nicht störungsfrei über die Bühne ging. Das erlebte SPD-Politiker Reiner Friedrich, als er die Änderung der städtischen Grenzen ins Spiel brachte. Er habe erst vorgeschlagen, alles einfach zu begradigen, schildert er amüsiert, wobei ihm ursprünglich ein Grenzverlauf auf der Verlängerung der Römerstraße vorgeschwebt hätte.

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Dann wäre der Bereich bis zur alten Römerstraße sowie das Gebiet entlang der ehemaligen B57 bis Rumeln von der Übertragung betroffen gewesen. Prompt formierte sich Protest. Hier befinden sich ein Wohn- und Gewerbegebiet, in dem neben einem Supermarkt auch zwei Moerser Unternehmen liegen. Die Moerser wollten keine Duisburger werden. Außerdem wäre der Nachbarstadt Gewerbesteuer verloren gegangen.

Inzwischen gibt es einen Kompromiss, dem beide Stadträte zustimmten. Überschrieben wird nur das kleine Gebiet rund um die - nunmehr abgerissene - Cölve-Brücke. So ist kein Anwohner betroffen, andernfalls hätte es auch eines Landesgesetzes bedurft, macht Friedrich klar. Und das wäre noch mal deutlich komplizierter geworden.

Da nimmt man auch künftig lieber ein paar kleine Beulen in Kauf.