Duisburg-Neumühl. „Husemann’s Büdchen“ in Duisburg gibt es seit über 100 Jahren. Der Kiosk ist eine Institution. Der neue Chef gewährt Blick hinter die Kulissen.
Die wunderbare Welt eines Büdchens. Wer darin eintaucht, ist schnell drin im richtigen Leben. Heute rollt Günter Reinsch freudestrahlend in seinem Rollstuhl auf „Husemann’s Büdchen“ zu. Davor hat sich ein Knubbel Menschen auf dem Bürgersteig versammelt. Auch Reinsch will an der Gerlingstraße in Duisburg-Neumühl einfach nur quatschen. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Aber in seinem Fall gleicht es einem Wunder.
Denn früher lebte der pensionierte Chemietechniker wie ein Einsiedler und meidet andere Menschen. Dann erwischt ihn Corona, er liegt im Koma, hängt ein halbes Jahr an der Lungenmaschine. Das Krankenhaus kann er nur noch im Rollstuhl verlassen, aber wenigstens lebend.
Die Menschen teilen an „Husemann’s Büdchen“ in Duisburg-Neumühl ihre Sorgen
„Seitdem bin ich ein anderer Mensch“, sagt der Rentner, „will mich unterhalten und suche Kontakt.“ Sich im Garten verkriechen ist keine Option mehr. Also ist der 75-jährige Stammgast von „Husemann’s Büdchen“ geworden – einer von vielen. Karsten Ludwig, der die Bude vor einem Jahr übernommen hat, kann gar nicht so genau sagen, wie viele Kunden sein siebenköpfiges Team täglich begrüßt. Nur so viel: Es sind mehr als 100, deutlich mehr.
Wer vorbei kommt, bleibt in der Regel stehen. Vor dem kleinen Fenster herrscht dann reges Treiben. Das Büdchen bietet alles, was die Leute brauchen: Kaffee und Zeitungen, frisch belegte Brötchen und Bockwürstchen, Leberkäse vom benachbarten Metzger Sieveneck, Tüten mit Brause und Lollis, Tabak und Bier bis hin zur Fertigsuppe. Auch die sündhaft teuren und viel zu scharfen Kartoffelchips, die in den sozialen Medien beworben und deshalb gerade hipp sind.
„Es wird nie langweilig“: Langjährige Mitarbeiterin ist inzwischen selbst eine Institution
Und natürlich wird geredet. „Wenn es langsam dunkel ist, schütten die Leute ihr Herz aus“, sagt Kioskbesitzer Ludwig. Der 51-Jährige steht dann hinter dem Tresen und schlüpft in die Rolle des Psychologen. Dann spricht er mit dem Witwer, der irgendwann das Portemonnaie zückt und das Foto seiner verstorbenen Frau zeigt. Die Menschen haben ihre Sorgen und wollen sie teilen.
„Ich habe schon mal drüber nachgedacht, ein paar Kühlschränke rauszuschmeißen und stattdessen ein Sofa aufzustellen“, sagt Ludwig und erntet gleich Widerspruch von Mitarbeiterin Sabrina Karniewski, die wie das Büdchen mittlerweile selbst eine Institution ist. „Die Kühlschränke werden gebraucht. Da kannste lieber Platz im Gang schaffen.“
Bine, wie die 40-Jährige genannt wird, arbeitet seit mehr als zehn Jahren hier. Sie kocht Kaffee, schmiert Brötchen, hört zu, gibt ihren Senf ab. Karsten Ludwig ist mittlerweile der dritte Besitzer, für den sie in Teilzeit arbeitet. „Es wird nie langweilig“, sagt Bine, die auch ihre Freizeit gerne am Büdchen verbringt.
Die beliebte Trinkhalle ist über 100 Jahre alt und Hintergrund für ein Buch über Gott
Der Kiosk gegenüber dem Fußballplatz des SC Hertha Hamborn ist mehr als 100 Jahre alt und einer der ältesten in Duisburg. Die genaue Geschichte kennen aber die Mitarbeiter, die von dem Büdchen leben, auch nicht. Nur so viel: Alles geht zurück auf eine Frau Schulz, die neben einem Lebensmittelladen Ende des 19. Jahrhunderts auch eine Trinkhalle an der benachbarten Fiskusstraße betreibt. Frau Schulz heiratet irgendwann Herrn Husemann, die Trinkhalle zieht an die Gerlingstraße, und seitdem gibt es dort „Husemann’s Büdchen“.
Die Trinkhalle liefert sogar den Hintergrund für ein Buch über Gott, was erst einmal skurril anmutet. Was haben Lollis und Kaugummis mit Gott zu tun? Daniel Gewand, ein Theologe aus Münster und Mitarbeiter des Radiosenders 1Live, macht früher häufig Halt an dem Büdchen, als er noch in Neumühl wohnt. Also verpasst Gewand seinem Buch den Titel „Gott ist wie Husemann“ und widmet dem Kiosk das einführende Kapitel.
Neuer Inhaber hat sich mit „Husemann’s Büdchen“ jede Menge Arbeit aufgehalst
Familienvater Ludwig kennt das Büdchen seit Jahrzehnten. Ende der 80er Jahre kauft er selbst seine Zigaretten hier. Als er die Trinkhalle übernimmt, muss er schon wenig später feststellen, wie viel Arbeit er sich damit aufgehalst hat.
Mit seinem Sprinter kutschiert er ständig zu Großhändlern und kauft selbst ein. Wer alles liefern lässt, mindert die Marge. Stattdessen handelt er Rabatte aus und wirbt damit, die günstigsten Preise anzubieten. Aber dieses Engagement hat auch seinen Preis. Der Samstag geht in der Regel dafür drauf, 60 Kisten Leergut wegzubringen und die gleiche Anzahl voller Kisten Bier, Limo oder Wasser wieder ranzukarren.
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Der Vorbesitzer habe wohl aufgehört, weil es ihm zu stressig geworden sei, wird vor dem Verkaufsfenster erzählt. Auch Karsten Ludwig kann sich über Langeweile nicht beklagen. Er ist eigentlich Glaser mit eigenem Unternehmen und baut Panzerglas in große Baumaschinen und Bagger ein, auch in solche, die glühende Schlacke transportieren. „Ich bin ein Exot mit dem Geschäft. Davon gibt es nicht viele.“
Wie passt dazu eine Trinkhalle, die jeden Tag bis 22 Uhr geöffnet hat, und zwar wochentags ab 5 Uhr, samstags ab 8 Uhr und sonntags ab 9 Uhr? Viel Zeit für die neunjährige Tochter bleibt da nicht, mahnt Ehefrau Yvonne (47). Die frühere Justizangestellte am Amtsgericht Oberhausen fürchtet, dass ihrem Mann irgendwann die Arbeit über den Kopf wächst. Deswegen dachte er bereits darüber nach, den Laden wieder abzugeben.
Dabei ist das Büdchen eine Rückversicherung für den Glaser, wenn er den harten Job mit den Baumaschinen irgendwann nicht mehr leisten kann. Dann soll die Trinkhalle die Familie ernähren. „Das funktioniert“, ist sich Ludwig sicher.
Und dabei helfen alle mit: Von der Gattin bis zu Jacqueline Thalheim aus Köpenick, die mit ihrer Berliner Schnauze auch im Duisburger Norden den richtigen Ton findet. So unterschiedlich scheinen die Trinkhallen im Ruhrpott und in Berlin also nicht zu sein. Doch „Husemann’s Büdchen“ ist für die Menschen aus Neumühl etwas Besonderes.