Duisburg-Marxloh. No-go-Area? Oberstufenschüler aus Rheinberg sind unterwegs in Marxloh, werden mit ihren Vorurteilen konfrontiert – und erhalten besorgte Anrufe.

Einzig der Rhein trennt den Duisburger Norden vom linksrheinischen Rheinberg. Doch an seinen beiden Ufern liegen manchmal zwei völlig unterschiedliche Welten. So wachsen viele Kinder und Jugendliche im dörflichen Rheinberg sehr behütet auf. Das nahe Marxloh kennen sie nur aus den Nachrichten – wenn überhaupt. Das wollen 40 Schülerinnen und Schüler aus der Jahrgangsstufe elf des Amplonius-Gymnasiums ändern.

Zusammen mit ihren Lehrern Lucas Aster und Sylvia Hagene fahren sie mit dem Reisebus nach Duisburg. Dort vertrauen sie sich dem Marxloher Lokalpatrioten und SPD-Bezirksvertreter Claus Lindner an, der sie auf einen seiner gefragten Rundgänge durch den Stadtteil mitnimmt. Die Jugendlichen wollen sich selbst ein Bild davon machen, ob Marxloh tatsächlich ein Brennpunkt ist, eine No-go-Area oder ein Paradies für Bräute. Der Ausflug wird die Rheinberger mit ihren Vorurteilen konfrontieren und teils ihre Weltsicht herausfordern.

Claus Lindner zeigt den jungen Besuchern zunächst das Zuwandererviertel rund um die Hagedornstraße, wo heute viele bulgarische Familien leben. Die Schüler erkunden Europas größte Brautmodenmeile, die am Wochenende Kundinnen aus vielen Ländern nach Duisburg lockt. Sie passieren auch das Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium, wo fast alle Schüler einen Migrationshintergrund haben. In ihrer eigenen Gruppe sind dagegen nur wenige Jugendliche aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte.

Oberstufenschüler aus Rheinberg lernen Duisburg-Marxloh kennen und besichtigen dabei auch die Ditib-Merkez-Moschee.
Oberstufenschüler aus Rheinberg lernen Duisburg-Marxloh kennen und besichtigen dabei auch die Ditib-Merkez-Moschee. © Lindner

Oberstufenschüler aus Rheinberg werden in Marxloh mit ihren Vorurteilen und der Realität konfrontiert

Ausländer bekommen in Deutschland alles umsonst? Damit greift der Marxloh-Kenner auf der besonderen Stadtteiltour ein weit verbreitetes Vorurteil auf, das auch die Schüler kennen. Er argumentiert mit Fakten und Gesetzen gegen diese Ansicht. Doch alleine Worte genügen ihm nicht, er lässt die jungen Besucher selbst erfahren, wie es um den Wahrheitsgehalt steht. Dabei hilft ein Abstecher zum Petershof.

In dem sozialpastoralen Zentrum Petershof erfahren die Jugendlichen etwa, dass das EU-Recht keine Regelung für eine Krankenversicherung von Zugezogenen vorsieht. Ohne Versicherungsschutz können obdachlose Polen, aber auch viele in Marxloh lebende Bulgaren und Rumänen nicht zum Arzt. Stattdessen kommen sie zu Pater Oliver Potschien und seinem Team. Ehrenamtler kümmern sich darum, dass Kranke behandelt werden – erst kürzlich hat dort eine mobile Zahnarztpraxis eröffnet. Dass es aber laut Lindner in Duisburg gut 10.000 Betroffene ohne Krankenkasse gibt, darunter viele Kinder, schockiert und bestürzt die Gäste.

Ein „fast magischer Moment“ in der Merkez-Moschee

Dafür sind sie danach ganz baff bei der Führung durch die Ditib-Merkez-Moschee mit Hülya Altun, die die Begegnungsstätte leitet. Sie bestaunen die Wand der „Tausend mal Tausend“-Spendenaktion im Hof. Darauf sind die Familiennamen der Spender und Spenderinnen verewigt, die bereit waren eine große Summe für ein sichtbares, prächtiges Gotteshaus beizusteuern, wo es früher nur Hinterhofmoscheen gab.

Hülya Altun begrüßt die Jugendlichen in der Merkez-Moschee und erläutert, wie ein muslimischer Gottesdienst gefeiert wird.
Hülya Altun begrüßt die Jugendlichen in der Merkez-Moschee und erläutert, wie ein muslimischer Gottesdienst gefeiert wird. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Geradezu verzückt ist Hülya Altun, dass eine Rheinberger Schülerin beim Gespräch über muslimische Gottesdienste Koranverse im schönsten Arabisch aus dem Gedächtnis rezitieren kann; ihre Familie stammt aus Marokko. Solch ein schönes Arabisch, verrät die Gastgeberin, höre man in der Merkez-Moschee, wo vor allem türkische Muttersprachler beten, nicht oft. Diesen Austausch empfindet Claus Lindner als einen „fast magischen Moment“, in dem der Gruppe klar wird, dass Rheinberg und den Duisburger Norden eben nicht Welten voneinander trennen.

Diskussion unter den Jugendlichen: Ist Marxloh eine No-go-Area?

Bleibt Marxloh den Rheinbergern denn nun als No-go-Area in Erinnerung? Nein, absolut nicht. So lautet das Fazit bei der Abschlussrunde im sonnigen Hof der Moschee. Aber ein gelungenes Integrationsbeispiel ist der Stadtteil auch nicht, das ist den Jugendlichen sofort klar. Ihr Tagesausflug allein offenbart viele Defizite. Von abgelehnten Asylbewerbern, die nicht abgeschoben werden können, zu arbeitslosen EU-Ausländern, die nach sechs Monaten nicht in ihre Heimat zurückkehren, wie es das Gesetz eigentlich vorschreibt.

So stellt eine Schülerin die Frage, wie man all die Menschen ohne Bleiberecht überhaupt wieder loswerden kann. Eine befriedigende Antwort darauf erhält sie nicht.

Die Situation der Bulgaren und Rumänen möchte die Elftklässlerin Maryam verbessern. Sie findet die Zustände, unter denen die Südosteuropäer etwa an der Hagedornstraße leben, schlimm und denkt über städtische und staatliche Programme nach, um sie besser zu integrieren. Robin setzt auch auf Unterstützung. Er hat schon mal ein Praktikum in Marxloh gemacht, und er habe dabei durchweg freundliche Menschen getroffen und keinerlei negative Erfahrungen gemacht. Dagegen ist Birk zum ersten Mal im Stadtteil und findet die Straßen genau so schmutzig und vermüllt, wie er sich das vorher vorgestellt hatte.

Diese schönen Straßen würden Sie niemals in Marxloh vermuten „Ist es denn für euer Leben überhaupt wichtig, ob es hier in Marxloh geordnet zugeht oder alles aus den Fugen gerät?“, fragt Claus Lindner die Reisegruppe. Zögerndes Kopfschütteln in der Runde. „Aber ihr wollt doch in Rheinberg auch in Zukunft eine funktionierende Müllabfuhr haben, einen zuverlässigen Paketlieferdienst und einen pünktlichen Nahverkehr, oder?“ setzt er nach. „Ich glaube kaum, dass ihr nach dem Abi diese Art von Jobs annehmen werdet, aber irgendjemand muss es machen.“

Ob die Jugendlichen ahnen, dass das Logistikzentrum in ihrer Heimatstadt als ein beliebter Arbeitgeber bei der bulgarischen Community in Marxloh gilt? Auch das weiß Lindner und rückt die beiden Nachbarstädte in den jugendlichen Köpfen erneut näher heran.

Seine Botschaft an die Teenager lautet: Ob man Menschen in Zuwanderungsstadtteilen vernünftig integriere und sie zusätzlich qualifiziere, gehe eben alle was an. Denn sie seien als zukünftige Arbeitskräfte für das Gemeinwesen unentbehrlich.

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Doch Integration ist schwierig. Diese Erkenntnis erspart er den Jugendlichen nicht und führt die praktischen Rahmenbedingungen auf. Gemeinsam mit Lehrer Lucas Aster bringt er fehlende Sozialarbeiter, krassen Lehrermangel an Grund- und Förderschulen, leere Stadtkassen, überfüllte Flüchtlingsheime und bürokratische Hindernisse im relativ armen Land NRW ins Gespräch. „Ganz ehrlich, ich würde auch nicht in NRW bleiben, wenn ich als Lehrerin in Hessen besser verdienen und schneller verbeamtet werden könnte“, sagte eine Schülerin nachdenklich.

Letztlich nehmen die Elftklässler im Amplonius-Gymnasium mit nach Hause, dass Marxloh für sie zwar keine No-go-Area ist, aber ein Brennpunktstadtteil mit vielen ungelösten Problemen. Einige ihrer Vorurteile scheinen nun ausgeräumt. Doch in ihren Familien gibt es sie noch. Während die Oberstufenschüler in Kleingruppen unterwegs sind, um etwas zu essen, rufen besorgte Eltern an, wollen wissen, ob es ihren Kindern gut geht, und raten ihnen zur Vorsicht im Duisburger Norden. (mit samera)

>> Weitere Marxloh-Rundgänge auf Anfrage

● Lokalpatriot Claus Lindner bietet weiterhin Marxloh-Führungen an. Die Schwerpunkte orientieren sich an der Zielgruppe – ob es Schüler, Soziologiestudenten oder Immobilieninvestoren sind.

● Die Gruppen sollten mindestens fünf Personen stark sein. Die Termine sind flexibel, meistens aber am Wochenende.

● Kontakt: oder per Mail: kroenke-hamborn@outlook.de