Ruhrgebiet. Marxloh zählt zu den Problemstadtteilen im Ruhrgebiet. Das neue Konzept eines „Ankunftsstadtteils“ soll das ändern. „Wir können Großes schaffen.“

„Alisia“ in der Friedrich-Engels-Straße ist die zum Ladenlokal gewordene Integration. Bulgarisch grundiert, wie man am „Prestige“-Shampoo mühelos erkennt, den „Serenata“-Schokoriegeln und den Maggi-Tütensuppen mit kyrillschem Aufdruck. Der Inhaber ist, man ahnt es schon, Ganz-neu-Duisburger. „Schon die dritte Filiale“, sagt Claus Lindner: „Als nächstes kommen die bulgarischen Restaurants.“

Lindner ist Lokalpolitiker der SPD und einer der großen Kümmerer in Marxloh; grüßt nach rechts, wenn er durch den Ort geht, sieht einen Bekannten auf einer Bank sitzen, setzt sich kurz hinzu, plaudert - und wird schon wieder von einem kleinen Obsthändler zur Linken angesprochen: „Claus. Laterne kaputt!“ Auch führt der 55-Jährige immer wieder mit geradezu marxloher Selbstironie Auswärtige durch den Stadtteil, die verunsichert lachen, wenn er eingangs erzählt, bei jeder Führung verschwänden drei Leute. „Da gibt es so einen Keller!“ Marxloh halt, im Norden von Duisburg, Inbegriff eines Problemstadtteils, auf müheloser Augenhöhe mit Neukölln.

„Die Mechanismen von Zuwanderung sind überall gleich“

Claus Lindner ist auch einer der Protagonisten in dem neuen Dokumentarfilm „Marxlohland“.
Claus Lindner ist auch einer der Protagonisten in dem neuen Dokumentarfilm „Marxlohland“. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Marxloh war schon immer früher schöner. Bevor die Polen kamen, sagten die Deutschen; bevor die Türken kamen, sagten die Polen; bevor die Roma kamen, sagen die Türken. Sämtliche Betrachtung der Stadtentwicklung, so steht es in einem politischen Bestandsaufnahme, „basiert seit über 30 Jahren darauf, einen vormaligen Zustand wiederherzustellen“ - von dem man noch nicht einmal weiß, ob er nicht nur aus geschönter Erinnerung besteht. Der Satz stammt aus dem Konzept „Duisburg ist echt . . . Making Heimat“, das beschlossen ist, auf alle derartigen Viertel anzuwenden und - einen komplett neuen Ansatz wählt.

Nämlich den, Marxloh (Essen-Altendorf, Dortmund-Nordstadt, Duisburg-Hochfeld . . .) zu sehen als „Ankunftsstadtteil“. Wie Brooklyn in New York, wie die Banlieus von Paris. „Die Mechanismen von Zuwanderung sind überall gleich“, sagt Claus Lindner: „Menschen kommen an, wohnen in abbruchreifen Häusern, arbeiten unter ausbeuterischen Bedingungen.“ Manche scheitern, andere sieht man irgendwann plötzlich vor einem Lädchen stehen, sagen wir, mit bulgarischen Lebensmitteln, schon die dritte Filiale, sie arbeiten sich hoch - und ziehen weg.

Die Stadt koordiniert die Projekte und unterwirft sie einer Erfolgskontrolle

Statt in eine idealisierte Vergangenheit zurückzudränen, was eh nie klappt, sollte Marxloh demnach den ständigen Wandel annehmen. „Vielleicht sind es in zehn Jahren Klimaflüchtlinge von den Malediven, die dann hier sind.“ Ins Konzept „Making Heimat“ haben sie 2021 erst einmal alles, einfach alles hereingeschrieben, was man so rumwünschen kann: „Passende Konzepte für Alkoholkranke, Drogenkranke und Obdachlose“ . . . „Sanierung der Fußgängerzone“ . . . „Durchsetzung des Rechts“ . . . „Stärkung des Miteinanders“ . . . Die Bandbreite reicht von Integrationskurs bis Hofbegrünung, jetzt wissen Sie, wie umfassend das ist.

Ist das mehr als eine Wunschliste? Ja, es ist beschlossene Politik. „Wir machen ja schon fast alles. Nur nicht vernetzt. Das ändert sich gerade“, sagt Lindner: „Es ist wie ein Fluss, der langsam in Wallung kommt.“ Dazu gibt es in der Stadtverwaltung eine Einheit, die die Projekte koordinieren und abstimmen soll, und eine andere, die ungewöhnliches versucht: Erfolgskontrolle. 50 Millionen Euro stehen bereit für das Programm „Stark im Norden.“

Ein universelles Gotteshaus, eine Markthalle, die besten Schulen . . .

Der zentrale August-Bebel-Platz soll umgestaltet und autofrei werden. Über die Details sind Stadt und Geschäftswelt uneins.
Der zentrale August-Bebel-Platz soll umgestaltet und autofrei werden. Über die Details sind Stadt und Geschäftswelt uneins. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Und weitergedacht: Was brauchen Flüchtlinge und Einwanderer aus Ländern, an die wir heute noch gar nicht denken? Ein universelles Gotteshaus. Die besten Schulen. Arbeit, denn an Arbeit hängt alles. „Wir haben in Duisburg wenig Arbeit, aber wir können qualifizieren.“ Eine Markthalle, wo die Menschen für wenig Geld einen Stand betreiben können, statt wie bisher aus dem Kofferraum die Lebensmittel zu verkaufen, die ihre Landsleute kennen aus der Heimat. Noch noch ein Beispiel von Lindner: „Wir bauen Fußballplätze ohne Ende, aber meine Fangfrage ist dann: Was ist der Nationalsport in Syrien und Afghanistan?“ . . . Nun ja . . . „Ringen.“

„Wenn es nicht funktioniert, bleibt es, wie es ist: Nach unten federt die Ordnungsmacht ab“, sagt Lindner. „Wenn es klappt, können wir Großes schaffen.“ Er setzt viele Hoffnungen auf den Ankunftsstadtteil. Eines weiß er ja auch von seinen Führungen: „Wenn jemand schon mal hier war, ändert sich die Ansicht.“ Es ist ja nicht nur die erfolgreiche Allee der Brautmoden, die jeder kennt. Es ist auch, dass es in Marxloh-Mitte ungewöhnlich wenige Leerstände von Läden gibt. Man muss das wissen, um es zu sehen. Dritte Filiale, Sie wissen schon.

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