Duisburg.

Wie ist das möglich? Jahr für Jahr werden immer weniger I-Dötzchen an den Duisburger Grundschulen angemeldet. Aber: Trotz sinkender Schülerzahlen ist die Zahl jener Schulanfänger kontinuierlich angestiegen, die wegen „erheblicher medizinischer Gründe“ ihren Schulstart um ein Jahr verschieben mussten.

In Zahlen gesprochen: Wurden vor zehn Jahren bei der Schuleingangsuntersuchung in Duisburg durch das städtische Gesundheitsamt 38 Kinder wegen Unreife oder gravierenden Gesundheitsprobleme um ein Jahr zurückgestellt, waren es im vergangenen Jahr 2013/14 mit 104 Kindern dreimal so viele Rückstellungen. Blickt man auf die Zahlen des Landes NRW, ist das Bild noch dramatischer.

Die Fallzahlen steigen

Dort haben sich die Zuwächse in den vergangenen Jahren verzehnfacht. Während man im NRW-Schulministerium über die Ursachen derzeit rätselt und auf Einschätzungen der Experten in den Kommunen und beim Schulträger vor Ort wartet, hat Dr. med. Dieter Weber, Leiter des Duisburger Gesundheitsamtes eine Erklärung.

„Der Gesundheitsbegriff“, so sagt er auf Nachfrage der NRZ, sei in den letzten Jahren weitergefasst worden. „Es wird jetzt auch die seelische Gesundheit bei der Schuleingangsuntersuchung berücksichtigt und nicht nur, ob ein Kind eine körperliche Erkrankung oder eine Wachstumsstörung hat.“ Sehtest, Hörtest, Impfberatung, Sporttest (Motorik, Koordination und Bewegung) und zum Abschluss ein ausführliches Gespräch über die Gesundheitsvorgeschichte des Kindes: So viel steckt heute in einem medizinischen Check für I-Dötzchen. Der kann dann schon mal zweieinhalb Stunden dauern. Konsequenz: Die Fallzahlen steigen.

Defizite beim Gesundheitscheck

SchulanfangAber es gibt nach Einschätzung des Mediziners noch einen weiteren Faktor, der die Zahlen nach oben treibt: Es hat etwas mit der „Inklusion“ zu tun - der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung. Behinderte Kinder werden auf Schultauglichkeit getestet. Weil sie aber seit einiger Zeit nicht mehr automatisch in der Sonderschule, sondern verstärkt in Regelschulen eingeschult werden, geht man beim Gesudheitscheck mit Defiziten dieser Kinder besonders vorsichtig um. „Wenn da irgendwas nicht ganz klar ist“, sagt Weber, „wird das Kind um ein Jahr zurückgestellt.“ Auch dies treibt die Fallzahlen in die Höhe.

Während Elternvertreter und Bildungsexperten aber mutmaßen, dass betroffene Eltern ihren Kindern den immensen Druck in den Grundschulen möglichst lange ersparen wollen und ein Ministeriumssprecher genau dieses Motiv für die stark gestiegenen Fallzahlen aber ausschließt, beobachtet der Duisburger Leiter des Gesundheitsamtes indes schon einen leichten Rückgang der hohen Fallzahlen: „In 2014 hatten wir statt 104 jetzt nur noch 72 Rückstellungen.“ Der Gipfel sei überwunden, glaubt er.