Duisburg. In diesem Teil der Serie, in dem Bürger ihre Erinnerungen an die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg schildern, kommt der Hamborner Siegfried Bakiera zu Wort. Der heute 80-Jährige erinnert sich noch an jedes Detail in der schrecklichen Nacht Ende März 1943.
„Die Sirenen heulten wieder einmal – wie so oft: Zuerst die bekannten drei langen Töne. Das war der Voralarm, wenn sich feindliche Flugzeuge näherten. Danach gab’s Vollalarm. Jetzt galt es, so schnell wie möglich einen vermeintlich sicheren Ort aufzusuchen.“ Siegfried Bakiera aus dem Hamborner Dichterviertel (80) erinnert sich an die Ereignisse vom März 1943, als wären sie gestern geschehen – und bekommt eine Gänsehaut.
Selbst gezogene Kerzen
„Da es in unserer Nachbarschaft keinen Bunker gab, ging’s hinunter in den Keller.“ Genauer gesagt, in den Kellergang. Denn in den Räumen selbst lagerten Kohle und Brennholz. „Da war für uns kein Platz!“ Licht gab es auch nicht, das bestand nur aus dem schwachen Schein der Flamme, die auf einer selbst gezogenen Kerze mit einem Wolldocht flackerte.
„Ich glaube, es war am 27. März 1943, als die Luftmine an der Ecke Goethe-/Uhlandstraße einschlug. Mit einer fürchterlichen Wirkung – ein Dutzend Häuser wurde vollständig zerstört.“ Das war gerade mal 60 Meter von seinem Zuhause entfernt. Alles drumherum lag in Schutt und Asche. In seinem Haus war zum Glück niemand verletzt worden. Der Kellergang hatte sich wieder mal als sicherer Ort erwiesen. Die Männer krochen nach dem Angriff nach draußen, konnten den Nachbarn sofort erste Hilfe leisten. Mit Spitzhacken, Schaufeln, Hämmern, Äxten und Sägen seien sie zu den Ruinen gerannt, erinnert sich Bakiera. Was sie draußen sahen, war schrecklich: „Reste der Treppenhäuser hingen locker an kahlen Wänden, Mauern und Möbelstücke drohten herunter zu fallen. Ein Bild der totalen Verwüstung.“
Ganze Familien ausgelöscht
Und dann die Schreie und das Wimmern der Verletzten und Verschütteten. „Unsere Väter schafften es, viele Menschen aus ihrer lebensbedrohlichen Lage zu befreien.“ Aber: Viele Nachbarn starben auch beim Angriff. Darunter Bakieras Schulfreunde. „Wer sich die Reihengräber auf dem Nordfriedhof ansieht, findet die Bestätigung: Da stehen zwei, drei und auch vier Grabsteine nebeneinander mit demselben Namen. Ganze Familien wurden ausgelöscht.“
Verborgene Unterwelten
Nach dem Angriff aufs Dichterviertel, das damals nur „Kolonie“ genannt wurde, kümmerten sich die Älteren noch intensiver um die Sicherheit. „Sie holten aus den Ruinen die starken Holzbalken, um die Wände und Decken unserer Kellergänge zu verstärken. So wie sie es aus dem Bergbau kannten.“
Die vielen Stunden im Keller haben sich dem Hamborner ins Gedächtnis gebrannt, lassen heute noch Bilder der Verzweiflung vor seinem geistigen Auge entstehen: „Manchmal betete jemand, manchmal schrie ein Kind, manchmal hörte man beides gleichzeitig. Oder eine Frau weinte aus Angst um ihr Kind. Aber es passierte auch, dass alle durcheinander redeten, um sich selbst oder um von der Lebensgefahr durch die Bomben abzulenken.“
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Das Aquarium ging zu Bruch
Bei dem Luftangriff gingen in Bakieras Haus alle Fensterscheiben zu Bruch, die Türen wurden herausgerissen. „Und die Wohnung lud wieder einmal zum Tag der offenen Tür ein, sagt Bakiera heute sarkastisch. „Die Fußmatte, die immer vor der Wohnungstür lag, fand meine Mutter später in unserem Küchenschrank wieder.“ Das heißt, die Wohnungs-, die Küchen- und die Schranktüren waren durch den Luftdruck bzw. Sog aufgesprungen, die Matte war hinein geflogen und die Schranktür hatte sich danach wieder geschlossen.
Viele Gegenstände sind an jenem Märztag zu Bruch gegangen. „Man nahm es gelassen hin, ändern ließ sich eh nichts!“ Es gab Schlimmeres als den Verlust von Geschirr oder Spielzeug: „Mir taten meine Fische leid, die die Nacht nicht überstanden hatten: Das Aquarium war auf den Boden geschleudert worden. Als ich das sah, zappelten meine Fische schon nicht mehr...“
Der Kleiderschmuggel fiel sofort auf
Um das nahezu unbewohnbare Dichterviertel aufzuräumen, wurden französische Kriegsgefangene eingesetzt, erinnert sich Siegfried Bakiera. Sie mussten zum Beispiel zu Bruch gegangene Fenster reparieren. „Unter ihnen war ein schlanker, fröhlicher junger Mann, mit dem ich mich so oft es ging unterhielt.“ Es dauerte nicht lange, da hatten sich Siegfried und Fabian, wie der Franzose hieß, angefreundet. Manchmal steckte Fabian dem kleinen Siegfried sogar ein Stück Schokolade zu. Obwohl jeglicher Kontakt verboten war. Eines Tages gab Fabian dem Hamborner Jungen einen Zettel mit seiner französischen Adresse: „Damit du mir später einmal schreiben kannst!“
Der junge Soldat hatte offenbar Fluchtpläne, sagte das aber nicht offen. Bakiera indes spürte dieses Verlangen und wollte helfen. Er kramte mit Hilfe seiner Mutter einen alten Zivil-Anzug seines Onkel aus dem Schrank und machte sich auf den Weg zu Fabian. Der besaß nur seine Uniform, in der jedoch keine Flucht möglich war.
Kaum hatte Bakiera sein „Päckchen“ abgeliefert, da schnappte ihn ein Mann, der ihn beobachtet hatte, und lieferte ihn bei der Gestapo ab. Es folgten stundenlange Verhöre, letztlich ließ man den Hamborner Jungen aber laufen.
Der heute 80-Jährige hat Fabian nie wieder gesehen. Zum Briefkontakt kam es auch nicht. Der Zettel mit der Adresse, den Siegfried im Küchenschrank versteckt hatte, war eines Tages verschwunden...