Duisburg. Der SPD-Abgeordnete Mahmut Özdemir, mit 26 Jahren der jüngste im Plenarsaal, erzählt zehn Wochen nach der Wahl im NRZ-Interview, warum er trotzdem genug Selbstbewusstsein hat, seine politischen Ziele umzusetzen, und warum er die Linkspartei für „selbstgerecht und verkappt ideologisch“ hält.
Herr Özdemir, ihre Wahl liegt zehn Wochen zurück. Sind Sie schon in Berlin angekommen?
Mahmut Özdemir: Ankommen werde ich hier nie. Ich bin hier zum Arbeiten. Das ist der Job des Bundestagsabgeordneten. Der Reichstag, mein Büro und meine Dienstwohnung stehen nun mal in Berlin. Angekommen bin ich in diesem Sinne nur in Duisburg. Da fühle ich mich wohl, da habe ich meinen Kiez. Aber dank meiner Büroleiterin Lis Wey und der technischen Ausstattung des Büros war ich hier von Anfang an arbeitsfähig und gut ausgerüstet.
Wie sieht eine typische Sitzungswoche für Sie aus?
Özdemir: Bisher hatte ich nur zwei Sitzungstage. Montag morgens fliege ich nach Berlin. Am frühen Nachmittag gibt es die ersten Besprechungen, dienstags ist Fraktionssitzung, in der Regel gibt es drei Plenartage, hinzu kommen die Ausschüsse und Büroarbeit.
Wie wollen Sie im Bundestag konkrete Politik für den eigenen Wahlkreis machen?
Özdemir: Ich habe bisher versucht, alle Themen, die ich im Wahlkampf versprochen habe, über meine Abgeordnetenkollegen einzubringen. Auch wenn ich als frisch gewählter Abgeordneter natürlich nicht am Verhandlungstisch sitzen durfte. Dabei ging es vor allem um Themen wie Zuwanderung aus Südosteuropa, Sozialhaushalt und Entlastung der Kommunen.
„Das Direktmandat gibt mir eine ganz andere Legitimation“
Sie sind im Wahlkampf mit dem Anspruch angetreten, „Kümmerer“ für den Nord-Wahlkreis zu sein. Ist der Kontakt zu Duisburg jetzt noch intensiv genug?
Özdemir: Ich reise sehr viel, brauche das Feedback vor Ort. Wir können Basisdemokratie in der Partei von unten nach oben nur leben, wenn wir sie auch leben wollen. Ein Abgeordneter muss sich als Teamspieler verstehen, der nicht immer im Vordergrund steht. Gleichzeitig muss ein Abgeordneter aber auch die politischen Wünsche der Basis vor Ort abfragen und sie nach Berlin transportieren. Das ist nicht einfach, zumal die meisten SPD-Abgeordneten nicht mehr über Direktwahl, sondern über die Landesliste in den Bundestag kommen. Wenn ich die Meinung der Duisburger Wähler in Berlin weitergebe, gibt mir das als Abgeordneter ein völlig anderes Selbstbewusstsein, eine ganz andere Legitimation.
In welchen Ausschüssen werden Sie mitarbeiten?
Özdemir: Offiziell ist das noch nicht entschieden. Das steht erst nach der Kanzlerwahl am 17. Dezember fest. Danach werden die Ministerien und die Ausschüsse zugeschnitten. Ich habe mich für den Ausschuss Arbeit und Soziales sowie den Innenausschuss beworben, als Ersatz den Rechtsausschuss.
Wie wollen Sie als jüngster Abgeordneter Ihre politischen Ziele umsetzen können?
Özdemir: Von den Kollegen, die sich wie ich um die Bereiche Innen und Recht kümmern, wurde ich sehr gut aufgenommen. Wir werden gemeinsam über den Bundesrat Initiativen zum Unternehmensstrafrecht und zur Vermögensabschöpfung starten. Da konnte ich den Kollegen wichtige Informationen geben. Darauf bin ich stolz.
„Der Duisburger Haushalt könnte um mindestens 23 Mio. Euro entlastet werden“
Was halten Sie vom Koalitionsvertrag?
Özdemir: Der Entwurf ist zustimmungsfähig. Es gibt viele Themen, die durchaus eine sozialdemokratische Handschrift tragen, aber auch solche, an denen man deutlich Kritik üben kann. Man muss da ehrlich und transparent Stärken und Schwächen auf den Tisch legen. Das hält sich durchaus die Waage, vielleicht mit einem kleinen Plus für die SPD. Geht man nach dem Wahlausgang, haben wir einen verdammt guten Job geleistet.
Welche Punkte können Sie guten Gewissens unterschreiben, welche nicht?
Özdemir: Die Verabredungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, zu Verbesserungen bei ALG II, zum Arbeitnehmerentsendegesetz, zu neuen Jugendberufsagenturen sind Erfolge. Das haben wir für die Menschen im Land erreicht. Das strukturelle Problem bei den Argen haben wir aber nicht gelöst. Verbesserungen gibt es auch mit der Mitpreisbremse und bei der Energiewende. Weniger überzeugt bin ich von den Kompromissen bei der Rückkehr zur steuerfinanzierten Rente, der Mütterrente, dem Betreuungsgeld.
Was wird dabei konkret für Duisburg heraus kommen?
Özdemir: Wir haben erreicht, dass die Kommunen massiv entlastet werden, etwa im neuen Bundesteilhabegesetz. Städte und Gemeinden werden bei den Kosten für Menschen mit Behinderungen und Grundsicherung im Alter um fünf Mrd. Euro jährlich entlastet. Und bis zur Verabschiedung dieses Gesetzes bekommen die Kommunen zusätzlich eine Mrd. Euro. Damit könnte der Duisburger Haushalt jährlich um mindestens 23 Mio. Euro entlastet werden. Das ist für Duisburg eine Stange Geld. Dazu kommen rund 600 bis 700 Mio. Euro jährlich für kommunale Projekte in der Städtebauförderung. Auch das ist für Duisburg ganz wichtig. Leider wird es aber keine Sonderfonds für Städte mit Armutsmigration geben, zu denen Duisburg zählt.
„Wir können nicht solange wählen lassen, bis das Ergebnis passt“
Hand aufs Herz: Wie wird die Basis entscheiden?
Özdemir: Bei der Mitgliederversammlung der Duisburger SPD im „Kleinen Prinzen“ vor einer Woche war die Stimmung sehr kritisch. Denn die Mitglieder wollten es genau wissen, stellten uns viele Nachfragen. Wichtig ist, ob wir die sozialdemokratische Handschrift im Koalitionsvertrag auch in der Regierungspraxis umsetzen können.
Und wenn die Basis den Koalitionsvertrag ablehnt, was dann?
Özdemir: Wenn die SPD-Mitglieder „Nein“ zum Koalitionsvertrag sagen sollten, bin ich mir sicher, dass es Parteien und Fraktionen im Bundestag gibt, die wie die „Grünen“ sofort ins „gemachte Bett“ springen wollen. Dann würde es zu neuen schwarz-grünen Sondierungen kommen, das hätte dann die größten Erfolgsaussichten.
Was halten Sie von Neuwahlen?
Özdemir: Neuwahlen? Nein! Die Parteien können nicht vors Volk treten und sagen: Wir lassen solange wählen, bis das Ergebnis passt. Und ich glaube kaum, dass es zu Rot-Rot-Grün kommt. Die Linke in ihrer aktuellen Verfassung redet und handelt selbstgerecht, zeigt sich verweigernd und verkappt ideologisch, macht keine Realpolitik. Ihre Haltung in der Verteidigungspolitik, etwa zu UN- und Nato-Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan, selbst zu kleineren, humanitären Einsätzen, ist konturlos.