Duisburg. Im Rahmen seiner berühmten Deutschland-Reise im September 1962 kam Frankreichs Präsident nach Duisburg, um vor 4000 Thyssen-Arbeitern für eine neue Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland zu werben.
Charles de Gaulle beugt sich weit aus dem Fenster seines Salonwagens. Beide Arme gerade hinabgestreckt, sieht es aus, als sei der mächtige hochgewachsene Körper in der Mitte zusammengeknickt und suche Halt in den Händen, die sich ihm von außen entgegenstrecken. Während der Zug langsam, ganz langsam aus dem Werksgelände gleitet, drückt der General all diese Hände, soviel er eben fassen kann. Aber es sind zu viele, um sie alle zu erreichen. Also breitet er schließlich die Arme aus mit einer weiten Geste, so als wolle er alle umarmen oder alle segnen.
Am dritten Tag seiner berühmt gewordenen sechstägigen Rundreise durch das Nachkriegs-Westdeutschland im September 1962, beim Besuch der August-Thyssen-Hütte in Duisburg-Hamborn, heute vor 50 Jahren, besteht der französische Staatspräsident nach Einschätzung von Zeitzeugen und Beobachtern endgültig die Bewährungsprobe für seine politische und menschliche Überzeugungskunst.
Der Pathos des Präsidenten
Nach seinem ersten Auftritt in Bonn mit den berühmten Worten („ . . das große deutsche Volk, jawohl, das große deutsche Volk!“) kam der General am dritten Tag seines Staatsbesuches in Deutschland auf eigenen Wunsch in die Industriestadt Duisburg. Hier wollte er die einfachen Menschen, „die deutschen Arbeiter treffen“, die nicht die Politik gestalten, die sie aber tragen und verwirklichen müssen. Wie aber würden eben diese Menschen auf den besonderen Pathos von Charles de Gaulle reagieren?
Am Rande des Staatsbesuchs
Das Goldene Buch der Stadt Duisburg und das Gästebuch der August-Thyssen-Hütte wären beinahe um die Unterschrift des Generals gekommen. Denn Präsident Charles de Gaulle hatte nach dem Ende seiner Rede das Podium zur nicht vorgesehenen Seite verlassen und war dann sofort umringt von Menschenmassen. Ehe man sich versah, war er weit von jener Stelle entfernt, wo sich die Prominenz und Oberbürgermeister August Seeling mit dem Goldenen Buch aufhielten. Mit viel Glück wurde de Gaulle dann doch noch vor dem Torausgang vom Thyssen-Werkschutz umdirigiert, der ihn zum Pult mit den beiden Gästebüchern bugsierte.
In einem ausführlichen Bericht von Manfred Rasch („Kein Tag wie jeder andere - der französische Staatsbesuch bei der August-Thyssen-Hütte AG“, erschienen in der ATH-Werkszeitung Nummer 8, 1962) erfährt man eine Menge Details über den Besuch. Hubschrauber waren 1962 noch nicht das eingeführte Fortbewegungsmittel für Staatsgäste und so kam der französische Präsident von Düsseldorf aus per Rheindampfer in den Werkshafen Schwelgern. Es regnete an diesem Donnerstag in Duisburg und der Gast hatte Verspätung. Die wartenden Lehrlinge und eine Bergmannskapelle waren völlig durchnässt, als de Gaulle schließlich auf dem Gelände eintraf. Der Präsident war dann nach der Ankunft im Hafen in einen Sonderzug umgestiegen, der ihn auf dem Werksgelände zur drei Kilometer entfernten Warmbreitbandstraße chauffierte.
Er wurde begleitet von Ministerpräsident Franz Meyers, von Außenminister Gerhard Schröder (Adenauer war bereits in Düsseldorf vom Schiff gegangen, das aus Köln kam), mit dabei waren Thyssen-Chef Hans-Günther Sohl und Duisburgs Oberbürgermeister August Seeling. Dicht neben de Gaulle lief sein Dolmetscher und „Souffleur“ Jean Meyer.
Die Gruppe marschierte schließlich durch die 400 Meter lange Halle, wo 4000 ausgesuchte Arbeiter auf sie warteten und in „frenetischen Beifall ausbrachen“, als sie den Gast erblickten. Nach einer kurzen Begrüßung durch ATH-Chef Sohl ergreift de Gaulle das Wort.
Er spricht mit Pathos
Er spricht auf deutsch, seine Rede an die Arbeiter hatte er auswendig gelernt, er spricht mit Pathos: „Meine Herren! Ich wollte es nicht versäumen, zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen, um Ihnen den freundlichen Gruß der Franzosen zu entbieten. Die Tatsache, dass de Gaulle hier ist und von Ihnen so herzlich empfangen wird, beweist, wie sehr unsere beiden Völker schon einander vertrauen.“
Ein Aufschrei, ein Jubel und Beifall brechen los - niemand nimmt Anstoß, dass de Gaulle wie ein König von sich in der dritten Person spricht. Im Gegenteil: Der Präsident aus Frankreich hat die Sympathie der Duisburger schnell für sich erobert.
Abfahrt im Sonderzug
Immer wieder wird seine Rede - die von Beobachtern als „keine wirklich große Rede“ beschrieben wurde - von Beifall unterbrochen. De Gaulle wirkt sympathisch. Wie er da mit den Armen rudert und sich müht, sendet er die Botschaft von einer ehrlichen Haut. De Gaulle kommt an. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der hoch angesehene ehemalige Anführer des französischen Widerstandes jetzt und hier in einem deutschen Stahlwerk steht, das einst im ersten und zweiten Weltkrieg Waffen produziert hat, die auch gegen Frankreich gerichtet waren.
Doch dieser Mann klagt nicht an, er tritt mit großem Respekt vor das „große deutsche Volk“ und buhlt um Freundschaft und Aussöhnung. Nach seiner Rede, die vom deutschen Fernsehen - wie der komplette Besuch bei Thyssen - live übertragen wurde, ist de Gaulle umringt von Tausenden Menschen. Er badet in Sympathie und Zustimmung. Eine Stunde nach seiner Ankunft wird der Präsident wieder zurück an den Sonderzug begleitet. Als dieser dann langsam losfährt, beugt sich de Gaulle aus dem Fenster, um noch Hände zu schütteln, doch es sind zu viele. . . .
Das deutsch-Französische Verhältnis nach dem zweiten Weltkrieg
Als de Gaulle am 4. September in Bonn ankam, lag das Ende des Zweiten Weltkrieges gerade einmal 17 Jahre zurück. In 200 Jahren hatten Deutschland und Frankreich, deren Beziehung mit dem Begriff der „Erbfeindschaft“ charakterisiert wurde, fünf Kriege gegeneinander geführt. Nach den Schrecken des NS-Regimes war bei vielen Franzosen die Erinnerung an die deutsche Besatzung noch sehr präsent, Frankreich blickte nach wie vor mit großem Misstrauen auf den Nachbarn.
Doch de Gaulle und Kanzler Adenauer hatten sich der Versöhnung verschrieben. Im Juli 1962 besuchte Adenauer Frankreich, in der Kathedrale von Reims feierten er und de Gaulle am 8. Juli eine „Messe für den Frieden“. Bei seinem Gegenbesuch zwei Monate später wurde de Gaulle nicht nur in Bonn ein begeisterter Empfang bereitet, sondern auch in Düsseldorf, Duisburg, Hamburg, München, Stuttgart und Ludwigsburg.
Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Adenauer und de Gaulle den dt.-frz. Freundschaftsvertrag, der die enge Beziehung beider Länder auf ein vertragliches Fundament stellte.