Duisburg. . Für die Mitglieder des Vereins „Loveparade Selbsthilfe“, in dem sich Hinterbliebene und Verletzte des 24. Juli 2010 unterstützen, war dieser Abwahl-Sonntag in Duisburg ein ganz besonderer Tag.
Die Stimmung ist freundschaftlich. Bis sich die gut 20 Mitglieder zur Begrüßung durchgekuschelt haben, das dauert. Sie gehören zur Loveparade Selbsthilfe, dem Verein der Hinterbliebenen und Verletzten des 24. Juli 2010 und ihrer Angehörigen. Und sie wollen diesen Abwahl-Sonntag gemeinsam verbringen.
„Wenn ich die Nachrichten zu Hause allein verfolgen müsste, wäre ich verrückt geworden“, sagt Liliane und spricht damit vielen aus der Seele. Liliane ist 43 Jahre alt. Bei der Loveparade war sie eine von denen, die vor der Treppe an der Rampe stand und im Gedränge um ihr Leben kämpfte, schwer verletzt davonkam.
Ein Jahr später, am Gedenktag, brach sie psychisch zusammen, ist seither arbeitsunfähig. Sie sagt: „Dass der OB abgewählt ist, wird an meinem Gesundheitszustand nicht viel ändern. Aber es ist wichtig für mich, es ist ein Weiterkommen. Denn er ist das politische Oberhaupt und er muss die politische Verantwortung übernehmen.“
Von der Loveparade schwer traumatisiert
Aus Bremen ist Annika angereist. Die 18-Jährige wurde bei der Loveparade schwer traumatisiert: „Mir würde es nicht schlechter gehen, wenn Sauerland abgewählt wird. Aber mir würde es schlechter gehen, wenn er nicht abgewählt wird.“ Vom gut gehen spricht sie gar nicht. Durch die Abwahl fühlt sie sich einen großen Schritt weiter auf dem Weg zur Genesung, dessen Ende nicht in Sichtweite ist.
Das Wort Duisburg mache ihr immer noch „eine Gänsehaut“. Beim Gespräch hält sie sich an ihrem „Therapiebegleiter“ fest: einer kleinen engelhaften Holzfigur. Ein Medikament zur Beruhigung hat sie auch dabei. Annika brach nach der Loveparade die Schule ab. Nach einer stationären Therapie fühlt sie sich jetzt gestärkt, hat eine Ausbildung begonnen. Unterstützung findet sie auch bei der Gruppe. Die Gesellschaft mit Menschen, die nicht nach dem Warum fragen, wenn man weinen muss, die einfach verstehen, tut allen gut.
Einfach in den Arm genommen werden
Nadine (28) und Philipp (22) halten sich aneinander fest. „Es tut gut, einfach in den Arm genommen zu werden“, sagt die Hamburgerin. Und ihm tut es gut, überhaupt etwas tun zu können. Denn Philipp stand auf einer Brücke über dem Tunnel und musste unter sich hilflos das Grauen mit ansehen. Nadine hatte es durchs Gedränge rechtzeitig vom Gelände geschafft. „Aber das macht es auch nicht leichter“, sagen die zwei, denen die Gruppe „extrem wichtig“ ist.
Sybille Jatzko ist als Gesprächstherapeutin Expertin in Sachen Katastrophennachsorge, Trauma-Therapie, Trauer-Begleitung. All das leistet sie seit anderthalb Jahren bei den Betroffenen der Loveparade. Und dass sie heute die Mitglieder der Loveparade Selbsthilfe begleitet, ist für sie selbstverständlich, ein Ehrenamt. „Der Tag ist für die Betroffenen sehr aufregend. Er ist schließlich ausgelöst durch das Vorkommnis.“ Das demokratische Mittel der Abwahl könne helfen, moralische Werte wiederzuentdecken. „Das hat was mit Haltung zu tun, und die vermissen wir im politischen System“. Den Betroffenen stärke die Abwahl in jedem Fall den Rücken.
Und wie hätte sie gewählt? „Wenn ich abstimmen dürfte, würde ich mich mit den Betroffenen solidarisch erklären und für eine Abwahl stimmen“, sagt Sybille Jatzko.