Duisburg. Die Freiheit endete am Flughafen in Lima. Mike (19) aus Duisburg hatte sein Gepäck aufgegeben, als ihn die Drogenpolizei abfing. Jetzt verurteilte ihn ein Gericht wegen Schmuggels zu 15 Jahren Haft. Mike ist eine Randfigur in einem Schlag der deutschen Behörden gegen einen Drogen-Clan aus Marxloh.

Mike, Einzelhandels-Azubi im Oberhausener Centro, ließ sich in der Berufsschule von einem Mitschüler locken. Mit der Aussicht auf leicht verdiente 1000 Euro und zwei Wochen kostenlosem Urlaub. Alles was Mike tun musste, war auf dem Rückflug von Lima einen Koffer mitzunehmen. Zwei Kilo Kokain sollten darin so versteckt sein, dass niemand sie finden kann. Mike, 19 Jahre alt, der bis dato mit Drogen nichts zu tun und nie Probleme hatte, wie die Eltern versichern, tat etwas, was häufig als der „Fehler des Lebens“ bezeichnet wird. Er willigte ein. Seine Eltern waren zu dieser Zeit verreist. Am Telefon erzählte er ihnen, dass er mit einem Freund einen Last-Minute-Urlaub in der Türkei machte. Der Mitschüler, der ihn angeworben hatte, sollte mit nach Peru fliegen. Doch der sagte kurz vorher ab. Mike stieg allein in den Flieger.

Nach zwei Wochen in Peru holte ein Taxi Mike am frühen Morgen des 29. Oktober 2009 am Hotel ab. Im Kofferraum lagen bereits zwei Gepäckstücke. Mike gab die Koffer am Schalter auf, wenige Meter weiter nahm ihn die Polizei fest. Im Verhörraum warteten der Polizei-Kommandant, eine Staatsanwältin und ein Verbindungsbeamter des BKA. Auf dem Tisch lagen Fotos von Mike, die in Duisburg aufgenommen wurden. Mike war geständig, er gab alles zu.

Wie aus fünf Kilo später 14 Kilo Kokain wurden

Wenige Wochen später, im Morgengrauen des 25. November 2009, stürmte ein Sondereinsatzkommando vier Wohnungen in Marxloh und hob den albanischen Drogen-Clan aus, der Mike auf die Reise geschickt hatte. Die Polizei nahm vier Männer und zwei Frauen fest. Bei der Razzia fanden die Einsatzkräfte 250 Gramm Kokain, Streckmittel und Bargeld. Die Ermittlungskommission „Adria“ war dem Familienclan bereits seit einem halben Jahr auf der Spur. Die beiden Drahtzieher, ein damals 42-jähriger Duisburger, den sie in der Szene „König von Marxloh“ genannt haben sollen, und ein 44-jähriger Essener, wurden im Mai 2010 zu jeweils rund fünf Jahren Haft verurteilt.

Mike, das Bauernopfer, muss 15 Jahre hinter Gittern sitzen. Wie BKA und Zoll bestätigten, hat die peruanische Polizei die bei ihm gefundene Menge zunächst mit rund fünf Kilo angegeben. Das Gepäck von Mike wog insgesamt 36 Kilo. Das Kokain war in der Kleidung imprägniert. Die Polizei analysierte aus beiden Koffern jeweils nur ein Textilstück von 20 Gramm und errechnete daraus eine strafrechtliche Menge von 14,1 Kilo Kokain. Sprich: 22 Kilo Kleidung sollten demnach mit 14,1 Kilo Kokain imprägniert sein. Für „vollkommen absurd“ hält Mikes Anwalt Florian Thermann den Untersuchungsbericht.

Das Gutachten ist allerdings entscheidend: Die Menge legt das Strafmaß fest, die Grenze liegt bei 10 Kilo. Wer darunter bleibt, sitzt meist nur ein Drittel der Strafe ab und ist im besten Fall nach zweieinhalb Jahren wieder draußen. Über zehn Kilo folgen mindestens 15 Jahre Haft – ohne Chance auf vorzeitige Entlassung.

Der Anwalt beauftragte eine Gegengutachterin. Zu einer Verhandlung kam es erst anderthalb Jahre später, weil die behördlichen Gutachter acht Termine einfach platzen ließen. Womöglich absichtlich: Die Eltern und den Verteidiger erreichte über dubiose Umwege ein Angebot: Für 15.000 Dollar ließe sich das Gutachten widerrufen. Auch ein anderer Rechtsanwalt meldete sich bei den Eltern: Er könne für ihren Sohn die niedrigste Strafe herausholen, dafür müssten sie aber sofort eine ähnlich hohe Summe an ihn überweisen. Die Eltern hatten so viel Geld nicht auf dem Konto, sie boten Ratenzahlung an. Der Anwalt lehnte ab.

Beweise wurden bereits vernichtet

Die spätere Verhandlung über den Gutachterstreit dauerte sieben Stunden, an den 14,1 Kilo änderte das nichts. Den Gegenbeweis konnten Mike und sein Verteidiger nicht mehr erbringen. Die Kleidung hatte die Polizei bereits ein Jahr zuvor verbrannt. „In Deutschland hätte dies eine sofortige Einstellung des Verfahrens zur Folge gehabt“, sagt Anwalt Thermann.

Die Eltern sind verzweifelt. Sie können nicht verstehen, warum sich das Auswärtige Amt nicht einschaltet. „Natürlich, unser Sohn ist schuldig, er hat Drogen geschmuggelt“, sagt der Vater. „Aber hier widerfährt ihm eine große Ungerechtigkeit. Niemand hilft ihm“. Wäre er für die fünf Kilo verurteilt worden, die man bei ihm gefunden hatte, könnte Mike schon bald wieder nach Hause, sagt der Vater. Stattdessen soll er 15 Jahre sitzen. Die in Deutschland verurteilten Hintermänner aber könnten womöglich im nächsten Jahr schon wieder frei sein.

Korruption sei „gang und gäbe“

Welche Zuständnisse in dem Gefängnis in Lima herrschen, in dem Mike seit seiner Festnahme inhaftiert war, lässt sich in den Reiseberichten des Stabes um Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und Erzbischof Dr. Robert Zollitsch nachlesen. Bei ihrer Reise nach Brasilien und Peru vor wenigen Wochen trafen sie auch auf die Gefängnis-Seelsorger der Deutschen Gemeinde in Peru. „Ein Albtraum“ sei das Gefängnis Lurigancho, das vor 40 Jahren für 1800 Häftlinge gebaut wurde und mit 7500 Insassen überfüllt ist. In einem 40qm großen Raum schlafen über 20 Personen, schreibt ein Mitarbeiter des katholischen Lateinamerika-Hilfswerks. Eine eigene Zelle müsse mit Geld erkauft werden, ebenso wie Essen, Klopapier, aber auch ein Gerichtsurteil oder eine Hafterleichterung. Korruption sei bei den Polizisten und Justizvollzugsbeamten „gang und gäbe“, heißt es in dem Bericht. Viele der Gefangenen seien von der Gewalt im Knast gezeichnet, frische Hämatome zeugten von den täglichen Schlägereien.

Zudem sind die Haftbedingungen nicht mit denen in Deutschland zu vergleichen. Mike schlief im Gefängnis zunächst auf dem Flur und den nackten Fliesen. Die Eltern hatten 400 Euro für die „Erstausstattung“ geschickt, Decken und eine Matratze. Dann immer weiteres Geld, „soviel wir können, doch es kommt noch nicht einmal zur Hälfte an“, berichtet die Mutter. Die Eltern wollen ihren Familiennamen lieber nicht in der Zeitung lesen. Zum einen aus Scham, zum anderen, „weil Mike doch auch noch ein Leben haben soll, wenn er wieder kommt“, wie die Mutter erklärt. Ihren Sohn haben sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Nur ein Foto haben sie von ihm, das ein Fernsehreporter bei Dreharbeiten in dem Knast aufgenommen hat. Alle zwei Wochen ruft Mike an, die Gespräche dauern nur wenige Sekunden. „Er ist fertig“, sagt die Mutter. Um 20 Kilo sei er abgemagert, wiegt jetzt nur noch 55 Kilo. Vor wenigen Wochen ist er in ein anderes Gefängnis verlegt worden. In einen Neubau in der Wüste vor Lima, wo zwar die Betonwände neu, die Bedingungen aber die alten sind. Auch dort ist Geld nötig, damit die Haft erträglich wird.

Täglich verhaftet die Polizei Drogenkuriere

Mike ist kein Einzelfall. Nahezu täglich gehen der Polizei am Flughafen in Lima die gewollten oder ungewollten Drogenkuriere aus aller Herren Länder ins Netz. Die Peruaner nennen sie „Burriers“, eine Schöpfung aus den Wörtern „burro“ (Lastesel) und „courier“ (Kurier). Für Anwalt Thermann ist Mike der dritte Deutsche, den er in Lima verteidigt. Die Botschaft sei bemüht gewesen, sogar der Konsul habe sich in den Prozess eingeklinkt. Ausrichten konnte aber auch er nichts.

Offen bleibt die Frage, wieso es überhaupt so weit kommen musste. Wie der Zoll damals bekannt gab, hatte die Ermittlungsgruppe in Essen die Verhaftung von Mike veranlasst. „Wenn die Polizei davon gewusst hat, warum hat sie Mike nicht aufgehalten?“, fragt der Vater. „Bei einem Betrunkenen, der in sein Auto steigt, wartet sie doch auch nicht, bis er ein Unfall baut. Den lassen sie doch auch erst gar nicht losfahren“. Schließlich gilt alleine der Versuch als begonnene Tat und könnte ebenso strafrechtlich verfolgt werden.

Warum hat ihn die Polizei nicht gestoppt?

Die Fahnder lassen sich bei ihrem Vorgehen nicht in die Karten schauen, auch nicht nach Abschluss der Ermittlungen. Klar ist: Es müssen taktische Überlegungen gewesen sein, ihn in die Falle laufen zu lassen. Doch offenbar waren das Geständnis und die Aussage von Mike für die Ermittlungen nicht entscheidend: Man sei durch die Observierungsmaßnahmen in Duisburg auf den Kurierflug aufmerksam geworden, bestätigt Wilhelm Kassenböhmer, Sprecher der Staatsanwalt Essen. Mikes Angaben hätten allerdings nicht entscheidend zur Aufklärung des Falls beigetragen.

Nach jetzigem Stand muss Mike für seine „Jugend-Dummheit“, wie Anwalt Thermann es nennt, die vollen 15 Jahre absitzen. Zwar hat er Berufung eingelegt. „Aber es ist kaum vorherzusagen, wann sie verhandelt wird“. Im günstigsten Fall in ein paar Monaten, es könne aber auch ein Jahr dauern. Dennoch sieht er gute Chancen, „weil die Beweismittel vernichtet wurden und Mike damit das Recht genommen wurde, einen offensichtlichen Irrtum nachzuweisen“. Das sei ein Verstoß gegen die peruanische Verfassung.

Der Weg durch die Instanzen kann allerdings Jahre dauern. Bis der Fall vor dem höchsten Gericht landet, hatte Mike die 15 Jahre womöglich schon abgesessen.