Der „Knienden“ begegnet man auf Augenhöhe. 1,76 Meter misst sie und wäre über zwei Meter groß, wenn sie denn aufstehen würde.
Sie ist schlank, ihr Kopf, ihr Hals, Arme und Hände, Beine und Füße – alles an ihr wirkt etwas zu lang. Sie kniet in einer Haltung, die Übung erfordert: der rechte Unterschenkel am Boden, das Knie leicht berührt von der Ferse des linken Fußes. Der zur Seite geneigt Kopf mit den nach unten schauenden Augen und dieser schwebende rechte Arm mit der leicht abgeknickten Hand – wer oder was ist diese junge Frau?
Wilhelm Lehmbruck selbst versah sie mit einem schlichten Zettel „Kniende, überlebensgroß“. Und das, nachdem er so lange mit dieser Figur in seinem Atelier in Montparnasse gerungen hatte, dass schließlich seine Frau Anita für ihren Guss sorgte, damit sie 1911 im Salon d’Automne ausgestellt werden konnte. Vom Grand Palais trat sie ihren Siegeszug an. Während sie in Berlin und Köln eher zurückhaltend aufgenommen wurde, eroberte sie bei der Armory Show 1913 in New York, Chicago und Boston die USA und hinterließ dabei offenbar einen so tiefen Eindruck, dass ein Exemplar seit 1966 das Foyer der Metropolitan Opera in New York ziert.
Zum Geburtstag sind 171 Gäste aus acht Ländern angereist
In Deutschland erging es der „Knienden“ nicht so gut. Ihre Zeitgenossen empfanden sie als zu modern, der älteste Bronzeabguss, der 1925 für Lehmbrucks Heimatstadt Duisburg entstand, wurde im Tonhallengarten angegriffen. Zehn Jahre später landete sie in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München „und wurde damit rückblickend zum Sinnbild der Moderne erklärt“, wie Ausstellungs-Kuratorin Dr. Marion Bornscheuer berichtet. 1942 hieß es im Katalog des Museums of Modern Art in New York: „Lehmbrucks Kniende, das Meisterwerk des größten deutschen Bildhauers, wurde auf Hitlers Befehl aus der Berliner Nationalgalerie hinausgeworfen.“ Sie stehe „für die freie Kunst Europas“.
Aber wer ist sie denn nun, diese Figur, zu deren Geburtstag – neben anderen Werken von Lehmbruck – 171 Gäste aus acht Ländern angereist sind? Die erste Deutung lieferte der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe 1914: So könne man sich den Engel der Verkündigung vorstellen, schrieb er. Doch ist diese Frau nicht eher in sich versunken als mitteilsam? Ist sie Venus oder Eva, der Frühling oder die Jugend? Ist sie symbolisch gemeint? Wolle Lehmbruck mit ihr die Anmut darstellen, ein Thema, mit dem er sich schon im Studium in Düsseldorf beschäftigt hatte? Oder ist sie eine Tänzerin, die den Applaus des Publikums entgegennimmt? Für diese Deutung hat Marion Bornscheuer Beweise gesammelt. Spielte das neue Ballett, das Tutus und Spitzenschuhe ablegte, doch eine große Rolle in Paris 1911. Lehmbruck, der Geige spielte, liebte Theater und Oper. Sicher ist: Die Kniende ist ein Star in der Kunst des 20. Jahrhunderts.
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