Duisburg. .
Vor 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Für WAZ-Redakteurin Rusen Tayfur ist dies nicht irgendeine Nachricht, sondern ein wichtiger Teil ihrer Familiengeschichte. Ihr Vater kam 1969 von Diyarbakır nach Duisburg.
Ich habe mich schon oft gefragt, wie es gewesen wäre, wenn ich in der Türkei aufgewachsen wäre. In Diyarbakır, der südostanatolischen Stadt am Ufer des Tigris, aus der meine Eltern stammen. Aber meine Brüder und ich sind made in Germany. Kurdischer Bausatz, geboren in Duisburg. Schuld daran ist das Anwerbeabkommen, das Deutschland 1961 mit der Türkei geschlossen hat. Und ein heftiger Streit, den mein Vater mit meinem Großvater hatte. Aber alles schön der Reihe nach.
Ali Tayfur, der einmal mein Vater werden sollte, war gerade mit der Berufsschule fertig. Fünf Jahre lang hatte er tagsüber gearbeitet und abends gebüffelt. Gleich drei Berufe hatte er sich so erworben: Maschinenschlosser, Dreher und Fräser. Und er wollte noch mehr: die Hochschule in Istanbul besuchen. Mein Opa sah nicht ein, warum er einem seiner acht Kinder solche Sperenzchen finanzieren sollte. Er verbat es. „Ich war wütend und enttäuscht“, erinnert sich mein Vater. Wie seine kleinen olivenschwarzen Augen vor Zorn gefunkelt haben müssen, wie er den Kopf mit dem damals noch dichteren schwarzen Haar geschüttelt hat.
Zweimal hat dieser kurdische Dickkopf im Zorn eine gewichtige Entscheidung getroffen. Die erste, die dem Streit mit Opa folgte, war eine ziemlich gute, wie wir alle finden. Die zweite, von der noch die Rede sein wird, war, wie nicht nur mein Vater meint, „die dümmste Entscheidung meines Lebens“.
Wütend und enttäuscht also läuft mein Vater ins nächste Arbeitsamt, um sich zum Dienst am deutschen Wirtschaftsaufschwung zu melden. „Es waren heiße Zeiten damals“, erzählt er. Überall kursieren Geschichten von den ersten Gastarbeitern, die mit einem Koffer losgefahren und im Mercedes, die Taschen voller D-Mark, zurückgekehrt sind. Dann der Gesundheitscheck, den mein Vater über sich ergehen lässt: „Ich hab’ Verständnis gehabt, die Leute wollten uns als Arbeitskraft, ganz logisch.“ Und schließlich steht er eines Montags, am 10. Februar 1969, mit hunderten anderer Männer und Frauen im Istanbuler Sirkeci-Bahnhof, damals noch Endstation des Orient Express. Alle Freunde winken, wer weiß, wann man sich wiedersieht. Fliegende Händler verkaufen Wörterbücher. Dann fährt er ein, der Sonderzug nach Deutschland.
Musik und Tanz im Sonderzug nach Deutschland
Wie die meisten hat mein Vater nur einen Holzkoffer dabei, angefertigt für diese Reise. Darin: „nur ein paar Kleidungsstücke.“ Und auf dem Rücken eine Cümbüs, eine türkische Laute. Noch heute gibt mein Vater abends gern spontane Konzerte, am liebsten, wenn Gäste da sind und ein Glas Raki vor ihnen steht. Im Wohnzimmer meiner Eltern hängen eine Saz und eine Oud in einer Ecke, baumeln an Haken, die an der Decke befestigt sind, knapp über einem Tischen mit Rüschendeckchen, liebevoll dekoriert von meiner Mutter mit Vasen, Kännchen, Schälchen. Devotionalien aus der Ex-Heimat.
Die Fahrt bis München soll munter verlaufen sein. „Wir haben musiziert, gesungen und getanzt“, erzählt mein Vater gerne lachend. Er habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Zwei Tage später sind sie im verschneiten München angelangt, dem Verteilerbahnhof für die Arbeitskräfte.
„Ich bin nicht des Geldes wegen gekommen, nicht wegen der Arbeit, sondern aus Abenteuerlust.“ Das sagt mein Vater immer, wenn wir von damals reden. Er wollte „Deutsch lernen, die Deutschen kennenlernen, Deutschland auch und dann andere europäische Länder“. Und genau in dieser Reihenfolge hat er es gemacht.
Halbes Gehalt für den Deutschkurs
Mein Vater ist von der Mannesmann AG angeworben worden, als Betriebsschlosser im Hauptwerk an der Ehinger Straße in Duisburg. Die erste Zeit wohnt er in einem Ledigenheim in Oberhausen. Nach einer Woche mit Lautsprache am Arbeitsplatz und Gehampel beim Brotkaufen beschließt er, dass es so nicht weitergeht. „Ich habe in meinem Wörterbuch das Wort Sprachschule nachgeschlagen und mich durchgefragt.“ 400 Mark bezahlt er für den Einzelunterricht, die Hälfte seines Gehalts. Fortan büffelt er nach der Arbeit Vokabeln und Grammatik. Zum Beweis holt er gerne die blauen Wörterbücher hervor und die Schulhefte mit gelbem Einschlag. Fein säuberlich stehen darin Wörter und ganze Sätze. Man sieht: Mein Vater hat das damals sehr ernst genommen mit dem Deutschlernen. Die Kollegen im Heim tippen sich an die Stirn.
„Nachdem ich Deutsch gelernt hatte, standen mir alle Wege offen“, erzählt mein Vater. Schnell wird er zum Dolmetscher für viele andere, die keine Lust haben, so viel Geld in Deutschkurse zu stecken. Wo sie doch eh nach drei, höchstens fünf Jahren zurückkehren werden. „Die meisten wollten nur solange bleiben, bis sie genug Geld zusammen hatten, um in der Heimat einen Traktor kaufen zu können, ein Stück Land oder ein Haus.“ Mein Vater lacht immer, wenn er das erzählt, er kennt zu viele, die heute immer noch hier sind. Und manche können immer noch nicht richtig Deutsch.
Mein Vater, der sich offenbar eher als Weltreisender denn als Gastarbeiter verstand, dachte nicht darüber nach, ob und wann er zurückkehren würde. „Ich hatte keinen Plan, niemals.“ Er wird Gewerkschafter, Betriebsrat, SPD-Mitglied. Er hat deutsche Freunde, bald auch eine deutsche Freundin. Während viele Türken in zwei Schichten für verschiedene Firmen arbeiten, um noch mehr Geld zu verdienen, lässt mein Vater die Dinge auf sich zukommen.
1976 ist das süße Leben vorbei. Beim Urlaub in Diyarbakır, standesgemäß im Opel Kadett Coupé, nimmt Oma ihn zur Seite. Mein Vater ist jetzt 31 Jahre alt, nach anatolischer Vorstellung höchste Zeit zu heiraten. Wie es denn mit der hübschen Nachbarstochter wäre. Mein Vater willigt ein, meine Mutter auch. Im gleichen Sommer noch wird Verlobung, im Jahr darauf Hochzeit gefeiert, drei Tage und drei Nächte lang.
Türkenwitze auf der Arbeit
Hier beginnt nun eine neue Einwanderungsgeschichte, die meiner Mutter. Gerade mal 17 Jahre ist sie, blutjung und unerfahren. Die erste Zeit ist hart, sie heute darüber auszufragen endet in Tränenmeeren orientalischen Ausmaßes. Mein Vater mietet eine Wohnung in Duisburg-Neudorf, keine anderen Türken weit und breit, keine Dönerbude, kein Gemüsehändler, der auch Auberginen hat. Und so besitzt auch meine Mutter bald Vokabelhefte. Mein Vater lernt abends nach der Arbeit mit ihr. Schon neun Monate später komme ich zur Welt, meine Mutter und ich lernen zusammen Deutsch. Die erste Nachbarin, mit der sie sich anfreundet, wird zu meiner heißgeliebten Tante Bärbel.
Das Abenteuer Auswanderung, jetzt geht es zu dritt weiter, 1981 bekomme ich ein Brüderchen. Vier Schwarzköpfe unter all den Blondchen, wir fallen auf. Draußen greifen mir immer wieder nette ältere Damen in die Haare, sie wollen wissen, wie sich diese festen, dunklen langen Zöpfe anfühlen. Mein Vater erinnert sich auch an Unangenehmes: „Einmal hatten wir einen Zettel im Briefkasten. Ihr Scheiß-Kanaken, geht in euer Land zurück stand darauf.“ Auch auf der Arbeit gab es blöde Sprüche. „Sie erzählten Türkenwitze, das war nicht schön.“ Hat er denn niemals darüber nachgedacht, in seine Heimat zurückzugehen? „Nein“, sagt mein Vater, „ich wollte bleiben und gegen die Vorurteile kämpfen“. Er ist fest davon überzeugt, dass es in jedem Volk nette und doofe Menschen gibt. Das hat er uns schon als Kinder beigebracht.
Eine Beinahe-Rückkehr
Und doch wären wir fast alle wieder fortgewandert. Das war 1984, ein paar Monate vor meiner Einschulung. Es sind wieder „heiße Zeiten“. Nur geht es diesmal darum, ausländische Arbeiter wieder loszuwerden. Mein Vater, damals im Betriebsrat, hat täglich türkische Kollegen vor sich, die darüber nachdenken, die Rückkehrprämie anzunehmen, mehrere tausend Mark. „Tut es nicht“, rät er ihnen, „ihr werdet es bitter bereuen.“
Doch dann kommt dieser Tag, an dem Wut und Stolz über die Vernunft siegen. An dem mein Vater sich streitet mit einem Vorgesetzten und kündigt. Die zweite folgenschwere Entscheidung. Für meine Mutter bricht eine Welt zusammen. Im vollbepackten Ford Granada geht es Richtung Türkei, nur diesmal nicht in den Urlaub. Vier Monate lang versucht mein Vater Arbeit zu finden. „Aber ich habe gesehen, wie schwer es wird, wieder Fuß zu fassen. Es war nicht mehr die Türkei, die ich 1969 verlassen hatte.“ Wenn mein Vater von dieser Zeit spricht, legt sich seine Stirn in tiefe Falten.
Pünktlich zum neuen Schuljahr sind wir wieder in Duisburg. Bevor die Aufenthaltsgenehmigung abläuft. Auch wenn wir Kinder uns an diese Zeit nicht erinnern, für meine Eltern war es ein heilsamer Schock. „Da habe ich dann entschieden, dass ich nicht mehr zurückkehren will“, sagt mein Vater. Für meine Mutter war das schon vorher klar.
Neue Heimat
Trotz türkischem Pass und kurdischer Wurzeln, Deutschland wurde für meine Eltern zur Heimat, für uns Kinder sowieso, wir kannten ja keine andere. 2001 haben wir fünf uns gemeinsam einbürgern lassen. Meine Eltern leben gerne hier. „Ich fühle mich sicher“, sagt mein Vater. Und auch das Heimweh ist, dank Telefon-Flat in die Türkei, dank E-Mail und Skype, deutlich weniger geworden. Trotzdem: „Ich bin kein Deutscher“, sagt mein Vater. „Man kann nicht aus Äpfeln Birnen machen.“
Ich bewundere es, wie gelassen meine Eltern mit ihrer Migrationsgeschichte umgehen. Mir hat es neulich beinahe das Herz zerrissen, als ich von Duisburg nach Essen gezogen bin. Das Wort Migrationshintergrund habe ich mir wirklich nicht verdient. Das waren andere - und auf sie bin ich stolz.