Essen. Vor 50 Jahren begann Adenauers Regierung die Anwerbung in der Türkei. Warum ließen Konservative zu Hunderttausenden Fremde ins Land? Eine kleine Geschichte von Konjunktur, Atomkrieg und dem Handel mit Urin.

Legationsrat Ercin verstand da keinen Spaß. Im ­Dezember 1960 überreichte der Diplomat im Auswärtigen Amt in Bonn ein Schreiben mit der Bitte, auch mit der ­Türkei bald ein Abkommen über die Anwerbung von Arbeitskräften zu schließen. Eine Ablehnung, sagte er, ­würde seine Regierung als ­Zurücksetzung des Nato-Mitgliedes Türkei betrachten. Wer mochte da noch nein sagen?

Am 30. Oktober 1961 traf ­also die Bundesregierung von Konrad Adenauer (CDU) mit der Türkei eine Vereinbarung über die Anwerbung von Arbeitskräften. Italiener, Spanier und Griechen hatte sie schon eingeladen (1955 und 1960), später folgten noch ­Marokkaner, Portugiesen, ­Tunesier und Jugoslawen.

1961 waren 500.000 Stellen unbesetzt

Fresswelle, zweistelliges Wachstum, der Millionste ­Käfer: Die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik boomte, doch ab Mitte der 50er-Jahre gingen ihr die Arbeiter aus. 1961 waren über 500 000 Stellen unbesetzt. Normalerweise antwortet man darauf mit ­höheren Löhnen. Doch Bergbau und Textilindustrie produzierten am Kosten-Limit. Und so warb etwa die Hamborner Steinkohle schon vor 1961 Arbeitskräfte aus türkischen Betrieben ab. Fakten waren geschaffen, aber das erklärt noch nicht, warum eine konservative Regierung dann tat, was konservative Regierungen nie gerne tun: zu Tausenden Fremde ins Land zu locken.

Berlin-Krise, Mauerbau, ­Revolution auf Kuba: 1961 ging man mit Angst vor einem Atomkrieg ins Bett und wachte damit auch wieder auf. Die Sowjetunion hatte Mittelstreckenraketen auf Westdeutschland gerichtet und dessen ­Sicherheit hing nun davon ab, ob die Nato zum Gegenschlag in der Lage war – doch dafür taten die Deutschen wenig.

US-Atomraketen nahe Izmir

Die Türkei hingegen hatte nahe der Millionenstadt Izmir US-Atomraketen stationiert. Die Bundesrepublik war ihr daher etwas schuldig, und nur darauf hatte der Diplomat Ercin ja so diskret hingewiesen.

Adenauers Regierung gab widerwillig nach: Das Innenministerium wollte, schon damals, keine Zuwanderung von außerhalb Europas. Es setzte durch, dass die Türken, anders als Spanier oder Italiener, nur zwei Jahre bleiben und ihre Familien nicht nachholen durften. Ja, sie mussten sich sogar einem „seuchenhygienischen“ Gesundheitstest unterziehen, was Istanbul zum wohl ein­zigen Ort der Welt machte, an dem man Urin kaufen konnte.

Minister Schröders bemerkenswerte Wende

Aber das Außenamt (es stand jetzt kurioserweise unter demselben CDU-Minister Gerhard Schröder, der 1961 noch das Türken-skeptische Innen­ministerium geleitet hatte) riss die Sache an sich und hob schon 1964 die diskriminierenden Regeln wieder auf – auf Bitten Ankaras. Und auf ­Bitten der Industrie, die ihre eingearbeiteten Leute nicht nach zwei Jahren wieder verlieren wollte. Denn, Über­raschung, die Türken waren gut: Immerhin ein Drittel war Facharbeiter – viel mehr als bei Italienern und Spaniern.

Gut 60 Prozent gingen bald wieder. Die übrigen begannen nun Angehörige nachzuholen, Familien zu gründen, sich einzurichten. 2,5 Millionen leben heute hier. War das absehbar? Theodor Marquard, der die Anstalt für Arbeit in Istanbul vertrat, sagte schon 1966: ­„Viele werden in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Sie werden dort Wurzeln schlagen und ihr Heimatland nur noch als Gäste besuchen.“

1967 – die erste Rezession der Bundesrepublik

Neues Leben, neue Wurzeln: Es klang so gut. Doch 1967 schlidderte das Land in seine erste Rezession – und da wurden die türkischen Kol­legen dann als erste arbeitslos. ­Zwischen Zechensterben und Ölkrise wuchs das Grüppchen der Arbeitslosen wieder auf die Million der frühen Fünf­ziger an. Nur dass nun ein Teil der Million kaum deutsch sprach, keine Ausbildung hatte und irgendwo am Rande in schlechten Wohnungen lebte. Die sozial-liberale Regierung von Willy Brandt erließ daher 1973 einen Anwerbestopp.

Auch das Abkommen von 1961 wurde da nicht mehr ­verlängert. Aber kein Legationsrat kam, um sich zu ­beschweren. Denn Ankara hatte längst begonnen, sich um die Landsleute in der Fremde Sorgen zu machen.