Duisburg.

Beim Ruhr.2010-Projekt "2-3 Straßen" von Jochen Gerz wohnten ein Jahr lang 78 Menschen aus aller Welt mietfrei im Ruhrgebiet. Gegendeal: Sie mussten über ihr Erleben schreiben. Zusammen gekommen sind 3000 Seiten Text - und viel Unvergessliches.

2010 ist fast vorüber. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Auch für Jochen Gerz. Der Künstler schuf im Kulturhauptstadt-Jahr im Rahmen seines Projektes „2-3 Straßen“ zusammen mit Kreativen aus aller Welt einen Text von monumentaler Länge.

Doch viel wichtiger als das 3000-Seiten-Buch war der Einfluss der neuen Bewohner auf jene, die schon immer dort lebten. „Ich glaube, dass sich durch das Projekt nicht ganz Hochfeld verändert hat – aber die Nachbarschaft rund um unsere Wohnungen schon.“ Und wie hat diese gemeinsame Zeit ihn selbst geprägt? Da schmunzelt Gerz. Und sagt wissend: „Jemand, der verändern will, muss sich auch selbst ändern.“

Ein Blick zurück: 78 Plätze in 57 zuvor leerstehenden und für das Projekt renovierten Wohnungen hatte Gerz in Duisburg, Mülheim und Dortmund zu vergeben. 1500 Bewerbungen aus aller Welt gingen ein – das Alter der Kandidaten reichte von 21 bis 50. „Die größte Überraschung war für mich, dass dieses Projekt überhaupt stattfinden konnte. Es haben sich für uns Türen geöffnet, die zuvor verschlossen blieben. Aber dank der Kulturhauptstadt war bei den Machern der Mut zum Risiko so groß wie nie“, lobt Gerz. Und Hilfe sei plötzlich nicht nur von den klassischen Kulturunterstützern gekommen.

Das verwunderte den Künstler auch deshalb, weil seine „2-3 Straßen“ eben nicht zu den publikumsträchtigen Ruhr.2010-Spektakeln wie „SchachtZeichen“ oder „A-40-Still-Leben“ zählten. „Nein, wir waren kein Event. Wir waren die Stillen.“

Teilnehmer durften mietfrei wohnen

Mietfrei wohnen

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    Ein Jahr durften die von ihm Auserwählten ab Januar mietfrei dort leben. Allein, oder als Teil einer Wohngemeinschaft. In Duisburg lag der Schwerpunkt am Hochfelder Markt – etwa der Saarbrücker Straße. Die Gegenleistungen, die Gerz dafür einforderte, lauteten: sich kreativ ins Leben der Nachbarschaft einzubringen – und zu schreiben. Schreiben über den gemeinsamen Alltag. Schreiben, wie sich das Leben durch die neuen Nachbarn verändert. Schreiben, was Herz und Verstand bewegt.

    „Natürlich wird hier nicht mal eben aus jedem Schreiber ein Marcel Proust. Viel wichtiger war, dass die gesamte Gesellschaft Produzent dieses Textes wurde.“ Der Text ist am Ende des Jahres ein gewaltig großer geworden (siehe Infokasten). Per Laptop trugen 1000 Autoren ihre addiert 10 000 Beiträge zusammen. Ist das nicht eher eine Text-Collage? Gerz nennt es einen „Fluss ohne Ufer, einen großen Strom“. Es gab kein vorgeschriebenes Thema, jeder durfte auf Wunsch in seiner Landessprache formulieren. Deshalb sagt Gerz auch, dass es ein europäischer Text geworden sei. Es seien fragende, vorsichtige Texte. Und keine Marmor-Texte. „Es ist ein Buch von vielen Menschen – so entstanden, wie noch kein anderes zuvor. Und es ist eine Essenz dieses Jahres.“

    Hälfte der Teilnehmer bleibt in Hochfeld

    Die allerwichtigste Essenz für Gerz lautet, dass die Menschen mit Migrationshintergrund von den Einheimischen nicht nur ständig als Zugezogene, sondern endlich auch als lebendiger, an Kultur und Kunst interessierter Teil unserer Gesellschaft betrachtet und wahrgenommen werden. Der Künstler nennt diese große Bevölkerungsgruppe einen unentdeckten Rohstoff. „Und wenn wir den nicht heben, verpennen wir unsere eigenen Zukunfts-Chancen.“

    Am Schluss des Gesprächs erklärt Gerz, was er im Nachhinein anders gemacht hätte. „Fast 80 Menschen in drei verschiedenen Städten zur gleichen Zeit betreuen zu wollen, war etwas zu viel.“ Schön sei aber, dass trotzdem nun nach Beendigung des Projektes fast die Hälfte der Duisburger Teilnehmer in Hochfeld bleiben wollen. Als neue Heimat.

    Gerz wollte zum Start von „2-3 Straßen“ einen großen kulturellen Fußabdruck in der Gesellschaft hinterlassen. Ob das geklappt hat, sollen andere bewerten. Für ihn sei das Projekt dann ein Erfolg, wenn es nachhaltig in den Menschen bleibe. Dass das so sein wird, ist Gerz’ Überzeugung.