Essen. .
Ein Jahr lang leben sie hier, schreiben auf, was innen und außen passiert, machen sich ein Bild von der Gegend und den Menschen. Die Residenzler sind der lebende Part in Jochen Gerz’ Kunstprojekt „2-3 Straßen“.
Sie machen – was? Sie leben in Wohnungen, die nicht ihre sind und schreiben auf, was sie denken. Oder was sie erlebt haben, oder beides. Ist das Kunst? Diese Frage sollte man nie ohne Not stellen; sie kann in eine Sackgasse führen.
Peter und Barbara Krüger machen ihr Leben vielleicht nicht zum Kunstwerk, aber sicher zu einem Abenteuer. Sie sind Rentner, er war Maschinenschlosser, sie bei der Stadt; aus Gütersloh sind sie an den Dortmunder Borsigplatz gezogen, um – naja. Mal was andres zu machen. Sie machen jetzt etwas sehr anderes.
Entscheidend ist die Idee
Jochen Gerz, der sich das alles ausgedacht hat, ist unbedingt Künstler: Konzeptkünstler. Für ihn ist die Idee des Kunstwerks entscheidend und die ist: Die Kulturhauptstadt bietet 78 Menschen in zwei bis drei Straßen des Ruhrgebiets ein Jahr lang eine Bleibe, gibt ihnen ein Laptop und sagt: Schreibt. Bittet auch die Leute, die sonst noch und immer da wohnen, zu schreiben. Heute, morgen. Was ihr wollt. Der Text verschwindet in einer Art Vorratsdose, keiner kann ihn lesen: Damit alles immer neu und anders ist. Und der nächste setzt da an, wo der vorige endet. Jochen Gerz schwört, dass man beim Lesen in einen Sog gerät, und dass es keine Brüche gibt; alles fließt.
Ob das stimmt, werden wir 2011 wissen: Dann wird ein Buch daraus. Es werden Sätze darin stehen wie „Die Katze schläft gern mit unter der Decke“, aber auch: „Wo sind wir, und wann?“
Ja, soviel können wir wissen, denn Gerz zeigt seit kurzem einen Brocken Text, vielmehr ständig einen anderen, im Essener Museum Folkwang. Auf einem Flachbildschirm; neben den „Hanging Men“ von Joep van Lieshout erzählt der Bildschirm von jungen Leuten, die nicht „Glück Auf“ sagen, sondern „Ey, was geht.“ Es fließt und fließt, ist eigenartig und so berührend, wie man es von Kunst erwarten darf. Also ist es doch Kunst?
Mancher möchte etwas verändern im Viertel
„Es sind so Gedanken“, sagt Barbara Krüger, „die ich aufschreibe, über den Tagesablauf.“ Ihr Mann schreibt über Politik, und Fußball. Nein, etwas Wichtiges wollen sie nicht schreiben, sie nehmen sich selbst nicht so wichtig.
Am Anfang, sagen sie, war da schon auch Ablehnung. „Die Leute haben wohl ge-dacht: Was wollen die? Wollen die hier Theater machen und sind dann weg?“ Das ist vorbei, Krügers sammeln jetzt Bücher für eine Tauschbörse, wer ein Buch nimmt, gibt ein anderes her. Der türkische Elternverein macht begeistert mit und die anderen auch: Sie haben schon polnische, französische, russische Bücher.
Volker Pohlüke ist 46. Er ist Social Contractor, einer, der Geldverdienen mit Sozialem verbindet. Er schreibt über das Weltgeschehen und sucht Sinn; er möchte etwas verändern im Viertel: dass sie nicht mehr denken, ich kann ja doch nichts machen. Sie haben jetzt eine Fahrradwerkstatt gegründet, im Innenhof. Pohlüke kann sich vorstellen, am Borsigplatz zu bleiben, vielleicht macht er einen Bioladen auf.
Bewohner auf Zeit
„2 - 3 Straßen“, so heißt das Projekt. Eine Straße in Dortmund, eine in Duisburg, Die in Mülheim ist vertikal: ein Hochhaus. Kultur scherzt.
Jeder Flur in den 20 Etagen sieht gleich aus. Charles Kaltenbacher (60) lebt hier auf Zeit, aus seiner Wohnung im 10. Stock hat er einen schönen Blick über Mülheim, aber dem Mann aus Wien fehlt das Vertikale. „In Wien sagt immer alles: Wir sind Kaiser!“ In Mülheim sind sie nur Rathaus. Kaltenbacher hat es gewusst, als er sich bewarb: „Das Ruhrgebiet ist der Schmutztiegel, aber jetzt passiert was.“ Er ist Tänzer, Performer; in einem Anzug, der Wahnsinnsmuskeln vortäuscht, macht er neben steinernen Löwen den Schwarzenegger. Kaltenbacher zeigt die Fotos gern, aber in Mülheim macht er anderes. Er hält Vorträge über abstrakte Kunst. „Die Leute sollen verstehen, wieso ihnen David Caspar Friedrich gefällt und können dann vielleicht auch Mondrian nachvollziehen.“ Kaltenbacher schreibt Lyrisches, Essayistisches, immer schon; hier macht er sich zum Teil eines Universums an Ge-danken und Empfindungen. Er sagt:„Da wächst ein Buch ohne Werknarzissmus - das ist eine breitere Form von Individualismus. Wenn man Demokratie ernst nimmt.“
Nachbarschaftsgeist. Demokratie. Ist das Kunst? Wenn Kunst etwas mit menschlicher Gemeinsamkeit zu tun hat: Dann entsteht sie hier, vielleicht. Kultur ist es ganz sicher.
- Das Projekt versteht sich als Gegenentwurf zur Eventkultur, Ziel ist die Veränderung der beteiligten Straßen. Die Teilnehmer sind 19 bis 68 Jahre alt. Duisburg: St. Johann-, Saarbrücker Straße; Mülheim: Hans-Böckler-Platz 7/9; Dortmund: Dreher-, Dürener, Schlosser-, Oesterholzstraße.