Duisburg. Ein Tonband, Razzien, Erpressung – die Kommunalwahl in Duisburg erinnert an einen Thriller. Eines der Wahlbetrugs-Verfahren ist jetzt beendet.
Begonnen hat alles mit einer Tonbandaufnahme, die kurz vor den Kommunalwahlen 2020 im Duisburger Norden innerhalb der türkischen Community für Furore sorgte. Es folgten mehrere Polizeirazzien. Ermittlungsverfahren gegen drei Verdächtige wegen Wahlfälschung schlossen sich an. Der Fall schlug bundesweit Wellen und wurde auch in der Türkei beachtet. Einer der Beschuldigten ist der bekannte Marxloher Geschäftsmann Selgün Çalışır gewesen, der stets seine Unschuld beteuert hat. Jetzt, nach fast dreieinhalb Jahren, hat die Staatsanwaltschaft Duisburg das Verfahren gegen ihn eingestellt. Er sieht sich damit von allen Vorwürfen entlastet.
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Auf dem Tonband soll zu hören sein, wie Çalışır auf Türkisch angeboten habe, tausende Wählerstimmen für die Kommunalwahl zu kaufen. Er trat damals als parteiloser Ratskandidat für das türkische Wählerbündnis BIG-Dergah an, hat die Aufnahme aber stets als Fälschung bezeichnet. „Bis heute ist nicht bewiesen, wessen Stimme das ist und wer dieses Tonband ins Netz gestellt hat“, sagte Selgün Çalışır kürzlich bei einer Pressekonferenz in Marxloh. „Ganz offensichtlich hatten gegnerische Parteien eine solch große Angst vor meiner Kandidatur gehabt, dass sie ihnen möglicherweise eine solche Manipulation wert war.“
Tatsächlich ist Çalışır in Duisburg kein Unbekannter, er ist der Vorsitzende des Marxloher Werberings und Gründungsmitglied des deutsch-türkischen Unternehmerverein Tiad.
Kaufangebot für Wählerstimmen? Razzia bei türkischer Familie wirkt bis heute nach
Aufgrund der Tonaufnahme soll ein freier Fernsehjournalist Anzeige erstattet haben, woraufhin die Behörden eine Razzia bei der Familie Çalışır in Röttgersbach anordneten und anschließend im Familienbetrieb, einer Finanzvermittlung am Pollmannkreuz.
„Das war alles sehr belastend für unsere ganze Familie“, sagt jetzt seine Ehefrau Neşe Çalışır. Sie erinnere sich noch ganz genau an den frühen Mittwochmorgen, 9. September 2020, als ihr zufolge gegen 6 Uhr plötzlich und überraschend Polizistinnen und Polizisten vor der Tür standen, ins Haus kamen und verboten, dass die Handys angefasst werden. „Sie haben uns behandelt wie Verbrecher“, so Neşe Çalışır weiter, das schließe die damals 15-jährige Tochter Sena-Merve und den 19-jährigen Sohn Sefa ein.
„Die Hausdurchsuchung hätte nie angeordnet werden dürfen“, sagt Rechtsanwalt Manfred Gregorius, denn deren Basis sei die Tonaufnahme gewesen und „sie dokumentiert keine Straftat“. Die bloße Bereitschaft, Wählerstimmen zu kaufen, sei nicht dasselbe wie sie auch tatsächlich zu kaufen. Beweise für einen Wahlbetrug hat demnach die Razzia nicht zutage gefördert. Dass daraufhin das Verfahren gegen Selgün Çalışır nicht eingestellt wurde, empfindet dessen Anwalt als „skandalös“.
Erpressungsversuche erinnern an Polit-Thriller „House of Cards“
Die Staatsanwaltschaft ermittelte weiter gegen den Ratskandidaten. Währenddessen sollen sich in Çalışırs Umfeld Erpressungsversuche abgespielt haben, die an einen Politthriller à la „House of Cards“ erinnern. So schildert der Geschäftsmann, dass ein türkischstämmiger Journalist von einem Bericht absehen wollte, sofern er dafür 5000 Euro bekommen hätte. Çalışır habe abgelehnt und daraufhin seien türkische Zeitungsberichte über Duisburger Wahlmanipulationen erschienen.
Zusätzlich soll sich am selben Tag „ein Bekannter aus einer Gruppe in Hamborn“ wegen eines zweiten Tonbands gemeldet haben, das die Vorwürfe angeblich zementieren würde. Ein Treffen am Altmarkt, zu dem Çalışır seinen Freund Aydin Erdal zur Unterstützung mitbrachte, habe sich als weiterer Erpressungsversuch durch zwei Hamborner Bekannte herausgestellt. Gezahlt habe er erneut nichts, denn diese zweite Tonaufnahme „hat es nie gegeben“.
Warum haben Selgün Çalışır und Aydin Erdal, ebenfalls damals Kandidat bei der BIG-Dergah und Stellvertreter im Marxloher Werbering, die Erpresser nicht bei der Polizei Duisburg angezeigt? Sie wollten nicht noch mehr Unruhe in den Wahlkampf bringen, sagt Çalışır der Redaktion.
Verfahren hat den Beschuldigten „über drei Jahre lang belastet und gequält“ – bis zum Schlaganfall
Zumal die Polizei ein zweites türkischstämmiges Wählerbündnis, die WGD („Wir Gestalten Duisburg“) ins Visier genommen hatte. Bei Razzien gegen zwei Beschuldigte, so äußerte sich die Staatsanwaltschaft im September 2020, wurde „eine hohe zweistellige Anzahl von Wahlunterlagen gefunden“, die „auf Fälschungsmerkmale“ überprüft werden müssten.
Diese unterschiedlichen Fälle seien in der öffentlichen Wahrnehmung immer miteinander vermengt worden, beklagt Selgün Çalışır, und das Verfahren habe ihn „über drei Jahre lang belastet und gequält“ und auch zu einem mittelschweren Schlaganfall geführt, „von dem ich mich noch nicht wieder erholt habe“. Nachdem der Kandidat bei der Wahl nur 62 Stimmen erhielt und kein Ratsherr wurde, wähnte er seine Unschuld für erwiesen. Doch die Staatsanwaltschaft legte nach.
Weil der Geschäftsmann, der auch Immobilieneigentümer ist, für ein Mieter-Ehepaar und zusätzlich für ein Kunden-Ehepaar online die Wahlunterlagen beantragte und beim Ausfüllen mit seinen Deutschkenntnissen behilflich war, überprüfte die Polizei, ob für Stimmen etwa ein Mietnachlass versprochen worden war. Oder ob Çalışır die Kreuzchen auf deren Wahlunterlagen selbst neben seinem Namen gemacht hatte. Diese Wähler „verneinten diese Fragen ganz entschieden“, so Çalışır und verweist auf die Vernehmungsprotokolle der Polizei in seiner Fallakte.
Die Ermittler fanden unter anderem 13 Wahlbenachrichtigungen für die Integrations- und Kommunalwahl im Büro des Familienbetriebs. Dies erklärt sich damit, dass Selgün Çalışır seine Büroräume dem Bündnis BIG-Dergah als Wahlkampfbüro zur Verfügung gestellt hatte. Viele Wählerinnen und Wähler seien allein schon wegen einer Sprachbarriere dorthin gekommen, um ihre Wahlunterlagen online zu beantragen und um anschließend Hilfe beim Ausfüllen der Unterlagen zu bekommen.
„Mangels hinreichenden Tatverdachts“: Staatsanwaltschaft beendet Verfahren gegen Marxloher Geschäftsmann
Das Verfahren gegen Selgün Çalışır ist jedenfalls beendet. „Nach Abschluss der Ermittlungen kam die Staatsanwaltschaft Duisburg zu dem Ergebnis, dass die vorliegenden Beweismittel wie die Audiodatei, die im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen bei dem Beschuldigten sichergestellten fremden Wahlbenachrichtigungen beziehungsweise Wahlunterlagen und elektronischen Speichermedien sowie die Angaben der zur Verfügung stehenden Zeugen nicht ausreichten, um dem Beschuldigten eine Straftat – mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen hinreichenden Sicherheit – nachweisen zu können“, bestätigt Staatsanwältin und Pressesprecherin Marieluise Hepe.
Der Einstellungsbescheid trägt ihre Unterschrift und das Datum vom 24. Januar 2024. Das Verfahren sei „mangels hinreichenden Tatverdachts einer Straftat“ (§ 170 Abs. 2 Strafprozessordnung) beendet. Die Staatsanwaltschaft sieht die Unschuld von Selgün Çalışır also nicht als zweifelsfrei erwiesen an. Das bekräftigt die Behörde gegenüber der Redaktion. Çalışır kann aber Schadensersatzansprüche nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz geltend machen. Der Strafverteidiger Manfred Gregorius widerspricht jedoch der Staatsanwaltschaft: „Die Unschuld ist bewiesen. Die Zeugenaussagen belegen, dass der Vorwurf des Stimmenkaufs falsch ist.“
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Über Verfahrensende ist Selgün Çalışır sehr erleichtert und sieht sich entlastet. Er hofft, dass sich jetzt auch die Haltung der Menschen im Duisburger Norden ändert, die an ihm gezweifelt und ihn seither argwöhnisch beäugt haben. Eine wichtige Lektion hat Çalışır aus der bitteren Erfahrung gelernt: Bevor er wieder für eine Partei oder ein Bündnis bei einer Wahl antritt, werden er und seine Familie sich das „sehr gründlich“ überlegen.
Ermittlungen wegen Wahlfälschung im Umfeld vom Bündnis WGD laufen weiter
Dagegen beschäftigt der mutmaßliche Wahlbetrug die Duisburger Staatsanwaltschaft weiterhin, wie Pressesprecherin Marieluise Hepe betont: „Das Ermittlungsverfahren gegen weitere Beschuldigte, denen ebenfalls der Vorwurf der Wahlfälschung unter anderem in Zusammenhang mit der Kommunal- und Integrationswahl in Duisburg 2020 gemacht wird, dauert noch an.“
Anders als BIG-Dergah ist das zweite von den Razzien betroffene migrantische Wählerbündnis WGD nach der Kommunalwahl in den Stadtrat und in die Bezirksvertretungen in Hamborn und Meiderich/Beeck eingezogen.