Marxloh. Plötzlich fehlen rund 35.000 Euro auf dem Konto: Die Stadtwerke Duisburg haben sie als Nebenkosten abgebucht – für leer stehende Mietshäuser.

Plötzlich fehlen auf dem Konto mehr als 35.000 Euro. „Das war ein Schock, als ich die Abbuchungen auf den Konten bemerkt habe“, sagt Selgün Çalisir. Die Stadtwerke Duisburg haben dem Geschäftsmann gepfefferte Jahresverbrauchsrechnungen für zwei Mehrfamilienhäuser in der Marxloher Fußgängerzone gestellt – und das, obwohl die Wohnungen darin schon über einem Jahr leer stehen.

Die Rechnungen landen gleich zu Dutzenden bei Selgün Çalisir im Briefkasten, einige in seinem Büro, andere bei ihm zu Hause. Schnell ist ihm klar, dass die Verbrauchszahlen der Stadtwerke für Strom, Gas, Wasser völlig falsch sind. Ein Blick ins Kleingedruckte der Abrechnungen verrät dem Immobilienbesitzer, was passiert war.

Anstatt den tatsächlichen Verbrauch von Februar 2022 bis Februar 2023 der insgesamt 15 Mietwohnungen in den beiden Eckgebäuden an der Kaiser-Wilhelm-Straße und Elsa-Brändström-Straße in Rechnung zu stellen, haben die Stadtwerke die Werte nur geschätzt und entsprechende Summen abgebucht. Dabei haben sie sich an den Vorjahreswerten orientiert. Damals waren noch alle Wohnungen belegt, seit März 2022 stehen jedoch 14 Wohnungen leer und sollen demnächst renoviert werden. Nur eine ukrainische Familie ist geblieben. Die vermieteten Ladenlokale in den Gebäuden sind nicht betroffen, sie haben andere Zähler.

Nebenkosten über 35.000 Euro für leer stehende Wohnungen

Ein finanzieller Schaden ist Çalisir immerhin nicht entstanden, da sich der Geschäftsmann die Lastschriften mit Hilfe seiner Bank umgehend zurückbuchen ließ. Abgebucht wurden von den städtischen Wirtschaftsbetrieben zusätzlich eine überhöhte Abwasserrechnung, die die Stadttochter anhand des von den Stadtwerken geschätzten Wasserverbrauchs vornahm. Auch dieses Geld, mehr als 6000 Euro, ist nun zurück auf dem Konto.

Ganze drei Tage lang habe Selgün Çalisir gebraucht, um alle Rechnungen anzufechten und mit den tatsächlichen Zählerständen korrigieren zu lassen. Das hat ihn aber nicht nur Zeit, sondern auch Nerven gekostet. Er fühlt sich abgezockt. Die Schätzungen der städtischen Versorger empfindet er als „unorganisierte Willkür“. Denn auch in seinem Bekanntenkreis sind bei Immobilienbesitzern von Mietshäusern in Duisburg ähnliche Fälle aufgetreten. Er vermutet, dass dies bei den Stadtwerken mit System geschieht. Schließlich dürften bei den wenigsten Vermietern die falschen Zahlen so offensichtlich sein wie diesmal bei Çalisir.

Dutzende Nebenkostenabrechnungen für leer stehende Mietwohnungen sind beim Duisburger Immobilienbesitzer Selgün Çalisir eingegangen.
Dutzende Nebenkostenabrechnungen für leer stehende Mietwohnungen sind beim Duisburger Immobilienbesitzer Selgün Çalisir eingegangen. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

So gehe er davon aus, dass längst nicht alle Eigentümer den kleingedruckten Hinweis erkennen, der die Zahlungsaufforderung als Schätzung ausweist. Dass sie die Nebenkosten bezahlen und es letztlich auf die Mieter umlegen. Hätte er den Fehler nicht bemerkt und die hohen Nebenkosten von der ukrainischen Familie kassiert, hätte sie bestimmt aus einem Mietshaus ausziehen müssen.

„In der Türkei kommt jeden Monat jemand vorbei und liest Gas, Wasser und Strom ab“, schildert Çalisir, dass es auch anders geht und betont, dass dies auch in Millionenmetropolen wie Istanbul so gehandhabt wird. So werde fair abgelesen und die Rechnungssumme nicht geschätzt. Dass solch monatlichen Ablesungen in Duisburg kaum möglich sind, weiß auch der Marxloher, doch von geschätzten Verbrauchswerten hält er überhaupt nichts.

Wenn schon kein Außendienstler beauftragt werden kann, der einmal im Jahr die Zählerstände notiert, fordert Çalisir, sollten die städtischen Versorger zumindest die Eigentümer bitten, die Werte selbst abzulesen und weiterzugeben. So wie es in Duisburg bei Privatleuten mit Eigenheimen längst üblich ist.

Da er nicht von einem Einzelfall ausgeht, hofft Selgün Çalisir, bei den Stadtwerken ein Umdenken zu bewirken, indem er mit seinem Fall an die Öffentlichkeit geht.

Fast jede vierte Stromrechnung in Duisburg ist nur geschätzt

Dagegen betont die Duisburger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft, zu der die Stadtwerke und die Netze Duisburg gehören, dass es sich um einen Einzelfall handele. „Eine Überprüfung ergab, dass krankheitsbedingt geplante Ablesungen nicht durchgeführt werden konnten. Im Nachgang wurde dann versäumt, eine Ableseaufforderung zu versenden. Das bedauern wir außerordentlich“, so DVV-Sprecher Thomas Kehler. Allerdings könne die DVV die Summe von 35.000 Euro nicht nachvollziehen. Sie gehe von 15.000 Euro aus – der Redaktion liegen aber Rechnung für Gas und Strom vor, die die Angaben von Selgün Çalisir stützen.

Dass Verbrauchswerte in Duisburg geschätzt werden, kommt übrigens häufig vor. „Im Jahr 2022 wurden im Netzgebiet der Netze Duisburg rund 23 Prozent der Ableseaufträge für Jahresverbrauchsabrechnungen im Bereich Strom geschätzt. Diese Zahl bezieht sich auf alle im Duisburger Netz tätigen Stromanbieter“, so Kehler weiter.

Bis auf eine stehen alle Wohnungen der beiden Eckgebäude an der Marxloher Fußgängerzone leer.
Bis auf eine stehen alle Wohnungen der beiden Eckgebäude an der Marxloher Fußgängerzone leer. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Grundlage für eine Verbrauchsschätzung, die im Fachjargon auch Ersatzwertbildung genannt wird, sei das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG, Paragraf 40a Abs. 2). Eine Schätzung sei zulässig, „wenn der Kunde seiner Pflicht zur Selbstablesung nicht nachgekommen ist oder der Energielieferant aus anderen Gründen, die er nicht zu vertreten hat, den Verbrauch nicht ermitteln kann“.

Davon können alle Kundengruppen mit einer „konventionellen Messeinrichtung“ betroffen sein, wo manuell abgelesen werden muss, so der DVV-Sprecher, also „Hauseigentümer mit Mehrfamilienhaus oder Einfamilienhaus, Privatkunden im Mietverhältnis, Gewerbekunden oder die Wohnungswirtschaft“.

Jedoch werden in der Regel die Zählerstände von Netze Duisburg abgelesen und die echten Werte abgerechnet. Sofern der Zähler nicht zugänglich sei, hinterlasse ein Mitarbeiter eine Bitte, selbst abzulesen. Sollten letztlich keine echten Stände vorliegen, kann der Netzbetreiber einen Schätzwert an die Stadtwerke weiterleiten. Das ist entweder der Vorjahresverbrauch oder der hochgerechnete Verbrauch bei einem vorliegenden Zwischenstand.

Für Selgün Çalisir ist die Angelegenheit nun erledigt. Im nächsten Jahr erwartet er, dass man ihn kontaktiert, damit jemand zum Ablesen in die Gebäude gelassen werden kann. Denn er will nur den echten Verbrauch bezahlen und keine Schätzungen.