Duisburg. War die Blitz-Stilllegung der Arztrufzentrale (116117) durch die KVen rechtens? Das Ministerium hat die Vorwürfe fertig geprüft. Die Ergebnisse.

Empörung und Solidarität waren groß, als im März bekannt wurde, wie die Kassenärztlichen Vereinigungen die etwa 155 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrer Arztrufzentrale NRW GmbH (ARZ) von jetzt auf gleich freigestellt hatten. Verdi etwa beklagte den „skandalösen Umgang mit Beschäftigten“. In einer siebenminütigen Online-Präsentationen hatten zwei Liquidatoren den überrumpelten Telefonistinnen und Disponentinnen erklärt: „Die betriebliche Tätigkeit der ARZ GmbH wird sofort eingestellt.“ Und: „Sie werden von uns widerruflich unter Fortzahlung Ihrer Vergütung freigestellt.“ Wenige Minuten später wurde die Belegschaft aus dem Hoist-Haus ausgesperrt. Das NRW-Gesundheitsministerium wollte prüfen, ob das Vorgehen der KVen Nordrhein (KVNo) und Westfalen-Lippe (KVWL) bei der Stilllegung ihres gemeinsamen Duisburger 116117-Callcenters rechtmäßig war. Nun hat Minister Karl-Josef Laumann (CDU) den Bericht zur aufsichtsrechtlichen Untersuchung vorgelegt.

Denn im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) hatte man Zweifel daran, dass die Betriebsstilllegung der ARZ rechtmäßig abgelaufen war. „Wir wollen das Geschehen engagiert aufklären“, hatte Laumann im Landtagsausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales auf Nachfragen der SPD-Fraktion versprochen. Die von einer auf Arbeitsrecht spezialisierten Kanzlei beratene Aufsichtsbehörde wirft den KVen in ihrem nun vorliegenden Bericht an den Ausschuss in der Tat Rechtsverstöße vor.

MAGS: Betriebsrat der Arztrufzentrale NRW wurde nicht rechtzeitig informiert

Nach Auffassung des MAGS haben die KVen „gegen die Informationspflichten nach dem Betriebsverfassungsgesetz verstoßen“, so ein Prüfungsergebnis. Denn: „Der Betriebsrat hätte rechtzeitig informiert werden müssen, dies ist nicht geschehen.“ KVNo und KVWL hatten die laut Betriebsrat 155 Mitarbeitenden am 7. März mit der Präsentation über ihre sofortige Freistellung und die Stilllegung informiert. Geschäftsführung und Betriebsrat war das unerwartete Aus lediglich 60 beziehungsweise 30 Minuten zuvor mitgeteilt worden.

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Das MAGS habe die Kassenärztlichen Vereinigungen „nach Bekanntwerden des Vorgangs auf diese Rechtsverletzung hingewiesen (aufsichtsrechtliches Mittel der ,Beratung’)“. Aber: Eine „nachträgliche Behebung dieses Rechtsverstoßes“ sei nicht möglich, „weil das Nachholen einer rechtzeitigen Information in einem solchen Fall nicht möglich ist“. Das Ministerium habe „in diesem Fall keine aufsichtsrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten“.

Die freigestellten Beschäftigten der Arztrufzentrale NRW hatten Ende März auch vor der Verwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein in Düsseldorf gegen ihre Entlassung protestiert.
Die freigestellten Beschäftigten der Arztrufzentrale NRW hatten Ende März auch vor der Verwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein in Düsseldorf gegen ihre Entlassung protestiert. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Der Bericht des Ministeriums verweist jedoch auf eine Konsequenz – suggeriert eine Bestrafung der Gesellschafter für ihre Verletzung des Betriebsverfassungsgesetzes: „Die Feststellung dieser Rechtsverstöße, insbesondere aber der politische und mediale Druck und die intensiven Bemühungen des Betriebsrates dürften zu den deutlich höheren Abfindungen bei dem zwischenzeitlich vereinbarten Sozialplan beigetragen haben.“

Betriebsratsvorsitzender: „Wir hätten es nicht für möglich gehalten“

Ende Juni, fast drei Monate nach der Ad-hoc-Stilllegung, hatten sich die von den KVen beauftragten Liquidatoren und der Betriebsrat geeinigt: Die Grundabfindungen sind doppelt so hoch wie die ursprünglich angebotenen, vielen langjährig Beschäftigten wird erst zum Jahresende gekündigt (zum aktuellen Bericht: Kündigungen bei Arztrufzentrale: Deutlich höhere Abfindungen).

Der ARZ-Betriebsratsvorsitzende Guido Geduldig sagte am Dienstag zur Feststellung der Rechtsverstöße durch das Ministerium: „Das war das Mindeste, denn sonst hätte das Betriebsverfassungsgesetz überhaupt keinen Wert mehr gehabt.“

Darüber hinaus war für die Aufsichtsbehörde fraglich, ob es sich bei der Neuorganisation der Arztrufzentrale (siehe Infobox unten) „um einen Betriebsübergang handelte, der besondere Schutzpflichten für die Beschäftigten“ bedeutet hätte. Die Prüfung habe jedoch „ergeben, dass ein Betriebsübergang nicht vorliegt“. Nach der Rechtssprechung etwa des Europäischen Gerichtshofes sei anerkennt, „dass nicht bereits jede Fortführung einer Tätigkeit einen Betriebsübergang bedeutet“. Auch Kriterien eines „Betriebsteilübergangs“ seien nicht erfüllt.

Guido Geduldig verweist mit Blick darauf noch einmal „verärgert und verbittert“ darauf, dass KVNo und KVWL nach der Stilllegung mit Stellenanzeigen neue Mitarbeitende für Tätigkeiten in Köln und Dortmund gesucht haben, die zuvor ARZ-Beschäftigte ausgeführt hatten: „Wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass die KVen ihre Leute vor die Tür setzen, aber für dieselbe Arbeit neue Leute suchen.“

Keine Erklärung zu Vorwürfen brisanter Begünstigung

Mit keinem Wort geht der MAGS-Bericht jedoch auf Vorwürfe aus der Belegschaft ein, die im Zusammenhang mit der Stilllegung öffentlich geworden waren: Minister Laumann hatte dazu Ende März im Gesundheitsausschuss gesagt, sein Ministerium werde auch diesen von der SPD-Fraktion aufgegriffenen „Vorwürfen der Vetternwirtschaft“ nachgehen (wir berichteten).

Brisant: Eine ehemalige Führungskraft der ARZ, die wenige Monate vor der Stilllegung zur KVNo gewechselt war, ist mit einem Manager des Unternehmens Foundever (ehemals Sitel) verheiratet. Der Callcenter-Konzern nimmt seit dem 7. März im Auftrag der KVNo – statt der ARZ – Anrufe an, die unter 116117 des ärztlichen Notdienstes eingehen.

Darüber hinaus hatten mehrere Mitarbeitende der freigestellten Belegschaft gegenüber unserer Redaktion behauptet, dass Pakete über Callcenter-Leistungen, mit denen die ARZ die Sitel-Gruppe 2020 und 2021 beauftragte, von der ARZ nicht ausgeschrieben worden seien. Es geht letztlich um hohe Summen öffentlicher Gelder für die Vergabe von Corona-Impfterminen in NRW (wir berichteten).

>> KVNo-Begründung: Lange Wartezeiten und „tief verwurzelte Defizite“

  • Die KVNo hatte die Blitz-Freistellung der ARZ-Beschäftigten gegenüber unserer Redaktion damit gerechtfertigt, dass mit „sofortiger Arbeitsniederlegung“ zu rechnen gewesen sei. Dann wäre die telefonische Erreichbarkeit des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in NRW unter 116117 laut KVNo gefährdet gewesen.
  • Noch während der Freistellung hatten etwa „Call Agents“ des Unternehmens Foundever Telefondienste der ARZ übernommen. Seit dem 7. März betreiben KVNo und KVWL die 116117 mit Hilfe externer Dienstleister getrennt voneinander. Sie wollen nach eigenen Angaben so die Erreichbarkeit der Hotline verbessern.
  • Mit der Arztrufzentrale wäre dies nach Ansicht der KVen nicht möglich gewesen: Ursache für „sehr lange Wartezeiten bis hin zur, zeitweisen Nicht-Erreichbarkeit“ seien „tief in der ARZ GmbH verwurzelte strukturelle, organisatorische und planerische Defizite“, so die Begründung eines KVNo-Sprechers im März.