Duisburg-Ruhrort. In Duisburg-Ruhrort gab es früher allein 147 Kneipen. Hinzu kamen zahlreiche Traditionsgeschäfte. Ein Blick auf die bekannten Namen.
Spannende Ruhrorter Geschichte und Geschichten gab’s beim dritten Heimatabend des Ruhrorter Bürgervereins 1910. Die zwanzig Besucher hatten sich in der früheren Schimanski Kult-Kneipe „Zum Anker“ viel zu erzählen. Vor gut einem halben Jahr hat Wirtin Jenny Breitkopf das damalige „Wohnzimmer“ des TV-Kommissars unter dem Namen „Ankerbar“ am Neumarkt wieder eröffnet und damit dem Verein eine neue Heimat gegeben.
Leer gefegt ist der Platz an diesem Abend. Vor der „Ankerbar“ genießen einige Gäste gut gelaunt und leise den lauen Juliabend, drinnen ist dagegen der Redebedarf groß.
Die Mitglieder des Bürgervereins haben Alben und Berge von Zeitungsausschnitten mitgebracht. Fein sortiert nach Daten. „Könnt ihr euch noch erinnern, als die Entscheidung fiel, das Hafenkonzert künftig anstatt um 6 Uhr morgens erst um 8 Uhr beginnen zu lassen. Das war eine Sensation“, erklärt der Vorsitzende Dirk Grotstollen, der die monatlichen Treffen ins Leben gerufen hat. Und er wartet mit Zahlen aus der Vergangenheit auf, die einem die Sprache verschlagen. „In fast jedem Haus in Ruhrort befand sich in den 1950er Jahren entweder eine Kneipe oder ein Geschäft. 147 Kneipen gab es zu der Zeit hier, das war eine richtige Boomtown.“
Früher war Duisburg-Ruhrort ein beliebtes Zentrum – Schiffer versorgten sich hier
Als Belege hat er die Werbung von Geschäftsleuten aus der damaligen Zeit mitgebracht. Mehrfach in Fotokopie, so dass den Mitgliedern bei den Namen sofort Geschichten einfallen. Mehrere Apotheken gab es, dass „Älteste Fleischerfachgeschäft am Platze – Meinert“ in der Amtsgerichtsstraße 3, das Antik-Lädchen in der Nähe, das Verkauf, Ankauf und Tausch anbot und mit „Bargeld sofort“ warb. Die Generalagentur Wilhelm Maas pries „Versicherungen aller Art“ an und mit einem großen Preisausschreiben warben die Geschäftsleute in den „Ruhrorter Nachrichten“ für sich und ihr Gewerbe.
Fest verwurzelt in ihrem Stadtteil sind sie alle – die Mitglieder des Bürgervereins, und sie kennen sich untereinander. „Hier gab es früher alles, wir brauchten nie in die Stadt zu fahren“, schildert Mieja Majer ihre „unglaublich schöne Kindheit.“ Bis sie sechs Jahre alt war, lebte die holländische Familie auf dem Schiff des Vaters. „Mit sechs Jahren, als ich zur Schule kam, fuhr unser Vater dann alleine. Meine Mutter, eine Power-Frau, die als erste Frau das Kapitänspatent für die Rhein-Schifffahrt hatte, lebte mit uns drei Kindern in Ruhrort und betrieb einige Jahre die kleine Kneipe Zur Schifferbörse in der Harmoniestraße, erzählt die 72-Jährige. Der Vater wurde am Wochenende in Amsterdam oder Rotterdam besucht.
Mieja Majer ging in die damals noch vorhandene holländische Schule in der Bergiusstraße, da, wo heute das Radiomuseum untergebracht ist. „Die holländischen Kinder waren alle in einer Klasse, der stramme Unterricht ging bis 17 Uhr am Nachmittag.“ Durch diese intensive Lernzeit war sie mit 13 Jahren mit der Schule fertig und begann eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau im Geschäft An der Heiden. „Das Haus für sämtlichen Bürobedarf, gegründet 1885“, so die Werbung. Mit 16 Jahren war sie mit ihrer Lehre fertig, blieb dort über Jahrzehnte und wurde nach dem Tod des Chefs 1995 Eigentümerin. „Ich nahm ein immer größeres Sortiment dazu. Schulbedarf, Schmuck und Geschenkartikel, es war ein richtig kleines Kaufhaus“, schildert sie. 2017 ging sie dann mit 67 Jahren in den Ruhestand.
Im „Anker“ wurde Post für die Binnenschiffer aufbewahrt
Auch das Ruhrorter Urgestein Käpt’n Harry ist an diesem geschichtsträchtigen Abend dabei. Der sportlich-hagere Mann ist bekannt im Stadtteil. Mit dunklem Jackett, rotem Einstecktuch und dunkler Kapitänsmütze ist er ein echter Hingucker. Jahrzehnte ist der jetzt 75-Jährige als Kapitän über Europas Flüsse geschippert. Hat in Duisburg Ladung geladen und gelöscht. Oft waren es Stahlprodukte, erzählt er. Dann war er wieder monatelang unterwegs, in Richtung Marseille und anderer großer Häfen. „Ich hab schon in sehr jungen Jahren Schiffe gefahren, weil ich aus einer Schifferfamilie komme. Mein Opa durfte sich Reeder nennen, denn er besaß drei Schiffe. Ich kenn’ das Geschäft von Kindesbeinen an, es ist immer noch meine Leidenschaft“, sagt Käpt’n Harry, der über eine ganze Reihe von Kapitänspatenten verfügt.
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Bilder seiner Karriere verwahrt er in einem Album, das er an dem heutigen Abend mitgebracht hat. Ruhrort liebt er ganz besonders. Das sei seine Heimat geworden, obwohl er jetzt in Rheinberg wohnt. „Wenn ich wieder monatelang unterwegs war, hab ich mir die Post immer in diese Kneipe ,Zum Anker’ schicken lassen. Sehnsüchtig hab ich dann darauf gewartet, endlich die Briefe in der Hand halten zu können. Und hinten im Anker gibt es noch einen großen Raum, da haben wir immer getanzt“, schwärmt er von früheren Zeiten. Dass es Postfächer in den Kneipen für die Schiffer gab, weiß Mieja Majer. Auch ihre Mutter hat Post für die Seeleute entgegengenommen und aufbewahrt, bis die langen Touren für die Schiffscrew für kurze Zeit im gemütlichen Ruhrort endeten.
Eins steht fest: Beim nächsten Heimatabend, am ersten Dienstag im September, sind sie wieder dabei - Geschichten gibt es noch viele zu erzählen.