Duisburg. Mehrere Familien dürfen nicht mehr in ihr eigenes Wohnhaus: Es wurde bei Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück massiv beschädigt. Einsturzgefahr!
Es war der 1. Dezember 2022, als die Welt von Nicole, Lara und Lars Fuhren aus den Fugen geriet. Die Familie wohnt(e) seit Jahren in ihrem Haus in Duisburg-Neudorf. Doch nun ist sie unverschuldet in Not geraten, weil auf dem Nachbargrundstück ein Neubau errichtet werden soll. Bei den Bauarbeiten ging einiges schief – und durch das Haus, das der Familie Fuhren mit gehört, ziehen sich nun mehr als 100 Risse. Schlimmer noch: Weil sich regelmäßig neue bildeten, wurde das Haus für unbewohnbar erklärt. Aktuell tingeln die Fuhrens von Ferienwohnung zu Ferienwohnung und auch die Nachbarn mussten sich eine neue Bleibe suchen. Anfangs fühlte sich niemand für das Schicksal verantwortlich. Die ganze Geschichte.
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Die Familie wohnt gerne in Neudorf. 2003 investierte sie in ein Mehrfamilienhaus aus den 1920er Jahren, das ihnen zur Hälfte gehört. Eine weitere Wohneinheit gehört einer Nachbarin, eine Wohnung ist vermietet. „Irgendwann kam der Eigentümer des brach liegenden Nachbargrundstücks auf uns zu und hat sich erkundigt, ob wir etwas dagegen hätten, wenn der Bereich bebaut wird“, erinnert sich Lars Fuhren. Die Eigentümergemeinschaft stimmte zu und auch eine Baugenehmigung von Seiten der Stadt wurde erteilt.
Nach Ausschachtungsarbeiten in Duisburg-Neudorf war nichts mehr wie vorher
Im vergangenen Jahr begannen schließlich die Arbeiten, die der Eigentümer in Auftrag gegeben hatte. Am Bauzaun hängt noch immer Werbung der Baufirma. „Ende November fanden Ausschachtungsarbeiten unter dem Fundament des alten Gebäudes statt. Die geöffneten Abschnitte sollten dann mit Beton verfüllt werden“, schildert Lars Fuhren. „Doch der Beton kam nicht rechtzeitig, und, wahrscheinlich, um Zeit zu sparen, wurden dann noch mehr Abschnitte geöffnet.“
Am nächsten Tag, Fuhren war gerade bei seinem Arbeitgeber, der König-Pilsener-Brauerei, auf Schicht, rief ihn seine Frau aufgeregt an. „Es knackte und knisterte als wäre Strom auf der Tapete“, erinnert sie sich. Doch beim näheren Hinsehen zeigte sich: Das Haus bekam Risse. Erst in der Außenwand, anschließend auch in den Zimmern.
Seitdem sind Fenster gesprungen, Fensterbänke gebrochen, Putz ist abgebröckelt. Die Bewohner riefen die Polizei, die umgehend die Straße sperrte. Zudem rückte die Feuerwehr an und räumte insgesamt drei Häuser – auch die Nachbarn mussten ihre Wohnungen verlassen. Zum Glück versorgte sie ein Küchenstudio in der Nähe auf den Schreck direkt mit einer Tasse Kaffee. Hier konnten sie die Zeit überbrücken.
Eigentümer des Grundstücks hat Bauherrenversicherung abgeschlossen
Als die geöffneten Abschnitte mit Beton verfüllt wurden, konnten die Häuser wieder bezogen werden. Ein erster beauftragter Statiker bescheinigte den Bewohnern im Dezember, dass es kein Problem sei, dort weiter zu wohnen. Die Eigentümergemeinschaft nahm sich einen Anwalt, „der allerdings nicht ein einziges Mal vor Ort war“, sagt Fuhren.
Der Besitzer des Nachbargrundstücks entschuldigte sich bei den Nachbarn – und hatte vor Baubeginn eine sogenannte Bauherrenversicherung abgeschlossen. Diese soll einspringen, wenn etwas schief läuft. Fuhren: „Die Versicherung hat zwar einen Sachverständigen beauftragt, aber bis Ende Februar ist nichts mehr gekommen. Wir mussten mit allem in Vorleistung gehen.“
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Eigentlich nur zur Ermittlung der Schadenshöhe beauftragte die Familie Anfang März, nachdem das Gutachten von dem Sachverständigen der Versicherung vorlag, eine Bausachverständige. Inga Bellwinkel begutachtete das Haus, um die Schäden für die Versicherung zu beziffern. Nach dem ersten Termin war der Fachfrau schnell klar: Hier kann niemand mehr wohnen.
Die Duisburgerin informierte über einen weiteren hinzugezogenen Statiker das Bauamt der Stadt – und die ließ das Haus innerhalb weniger Stunden räumen. Auch die Nachbarhäuser wurden schließlich begutachtet.
Doch dann blieb der Familie nur noch wenig Zeit, ein paar Sachen zu packen. „In so einer Situation setzt die Logik aus. Wir haben unsere beiden Katzen geschnappt, den Hund, ein bisschen Futter und ein paar Klamotten. Sonst nichts“, beschreibt Lars Fuhren.
Die Papiere befinden sich noch im Haus, Kleidung ebenso, aber eben auch Messer, Gabeln, Tische, Stühle. „Wir haben viele hilfsbereite Freunde. Unsere Katzen sind dort untergekommen, aber mit unserem großen Hund wollten wir ihnen nicht zur Last fallen“, sagt Nicole Fuhren. Die Tochter wohnt gerade bei der Familie ihres Freundes. Seitdem zieht das Paar von einer Airbnb-Wohnung in die nächste Ferienwohnung, immer möglichst möbliert und mit Waschmaschine ausgestattet.
Familie spricht in Notsituation bei der Stadt Duisburg vor
Familie Fuhren sprach zwischenzeitlich auch beim Amt für Soziales und Wohnen der Stadt vor, in der Hoffnung, dort wegen der unverschuldeten Notlage Unterstützung zu finden. „Wir haben ein paar Rücklagen, um das Haus abzubezahlen, aber niemand weiß ja, wie lange das dauert und wann wir wieder hinein können“, erklärt Fuhren.
Auf Nachfrage unserer Redaktion bestätigt Stadtsprecher Sebastian Hiedels, dass die Fachstelle für Wohnungsnotfälle grundsätzlich Menschen helfe, wenn Obdachlosigkeit drohe. „Jeder ist jedoch zunächst dazu verpflichtet, durch eigene Bemühungen eine geeignete Unterkunft zu finden. Wer sich also durch eigene Sach- oder Finanzmittel oder durch die Inanspruchnahme anderweitiger Hilfsangebote geeigneten Wohnraum, etwa ein Hotel, eine Ferienwohnung oder eine Pension beschaffen kann, hat keinen Anspruch auf eine Unterbringung in einer städtischen Notunterkunft“, lautet die Regelung. Die Familie sowie die anderen Nachbarn müssen also erst einmal selbst für die Unterbringung aufkommen.
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Weiterhin bestätigt die Stadt, dass die Nutzung des Hauses momentan untersagt wurde und das Gebäude erst wieder betreten werden darf, wenn die so genannte Giebelwand abgestützt wird.
„Man kann sich die Situation momentan so vorstellen wie ein kippendes Dominospiel. Die Fensterachsen sind wie eine Papier-Perforationslinie, an der es auseinander reißt. Der Bau aus den 1920er Jahren ist ein fragiles Konstrukt mit einer Holzdeckenkonstruktion. Die Fensterachsen sind dabei geschwächte Sollbruchstellen“, schildert die Bausachverständige Inga Bellwinkel, die für die Eigentümergemeinschaft die Koordination übernommen hat, die Situation.
Normalerweise müssen die so genanten Unterfangungsarbeiten, bei denen die alten Fundamente den neuen angepasst werden, nach der DIN 4123 von den Baufirmen ausgeführt werden. Diese „gibt an, wie diese Arbeiten so durchgeführt werden können, dass Standsicherheit und Gebrauchstauglichkeit der bestehenden Gebäude erhalten bleiben, und welche Nachweise dafür erbracht werden müssen“, heißt es darin. Warum mit weiteren Ausschachtungen nicht gewartet wurde, bis zunächst Beton verfüllt wurde, kann die Sachverständige Bellwinkel nicht sagen.
Das Bauunternehmen hat auf mehrmalige Nachfragen unserer Redaktion nicht reagiert. Und auch der Anwalt des Grundstück-Eigentümers verweist auf den Datenschutz und nimmt deshalb keine Stellung zu dem Fall.
Das sagt die Versicherung des Grundstück-Eigentümers
Nachdem die Eigentümergemeinschaft sich von einem neuen Anwalt, dem Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht Joachim Germer, vertreten lässt und dieser Kontakt zu der Versicherung des Grundstücksbesitzers aufgenommen hat, kommt aber Bewegung in die Sache.
Ein Sprecher der Generali erklärt auf Nachfrage unserer Redaktion: „Wir bedauern sehr die extrem widrigen Umstände, mit denen die Betroffenen in dem beschädigten Wohnhaus nunmehr konfrontiert sind. Die Dialog Versicherung AG ist im vorliegenden Fall eintrittspflichtig und selbstverständlich regulierungsbereit.“
Es sei bereits eine Vorauszahlung an die anwaltliche Vertretung der Wohnungseigentümergemeinschaft veranlasst worden, so der Generali-Sprecher: „Wir betonen jedoch, dass wir für den Schaden eintreten, obwohl unser Versicherungsnehmer den Schaden selbst nicht verschuldet hat. Nach aktuellem Sachstand wurde der Schaden von der beauftragten Fachfirma im Zuge der Unterfangungsarbeiten an der Baugrube schuldhaft verursacht.“
Die Klärung der Schuldfrage kann erst nach Einbau der Sicherungsmaßnahmen und weiteren Untersuchungen durch das örtliche Bauamt auf juristischem Wege herbeigeführt werden.
„Um wieder das Haus betreten zu dürfen, müssen Stahlträger, sogenannte Stempel zwischen dem beschädigten Haus und dem Nachbarhaus gesetzt werden“, beschreibt Inga Bellwinkel das Prozedere. Die Maßnahme muss auch noch mit dem Eigentümer des anderen Nachbarhauses abgestimmt werden. Die Stahlträger stützen dann das Gebäude provisorisch, so dass die Bewohner zumindest ihre Sachen herausholen können.
Erst im vergangenen Jahr hatte das schmucke Wohnhaus einen neuen Anstrich und zwei neue Balkonanlagen bekommen. „Die Rechnung der Maler ist erst vor kurzem gekommen. Wir haben regelmäßig investiert“, sagt Fuhren. Es könnte allerdings auch sein, dass die Beseitigung der Schäden mittlerweile teurer würde als das Haus abreißen zu lassen. Familie Fuhren mag gar nicht daran denken.