Duisburg/Moers. Jule Heßeler wog 600 Gramm, als sie vor 18 Jahren auf die Welt kam. Der Bunte Kreis unterstützte die Familie. So geht es der jungen Frau heute.
Jule Heßeler, 1,58 Meter groß, zarte Statur, ist eine Kämpferin. Die heute 18-Jährige kam als Frühchen in der 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt – 16 Wochen zu früh und nur 600 Gramm leicht. Sie war ein Zwilling, doch ihr Bruder starb schon zwei Tage nach der Geburt an schweren Komplikationen. „Er hatte alles abbekommen. Jule hatte so gut wie keine Krankheiten“, blickt Mutter Silke Heßeler zurück. Bei einer Feier zum 20. Geburtstag des Bunten Kreises in diesem Jahr erzählt Jule Heßeler ihre Lebensgeschichte.
Die Familie aus Moers gehörte zu den ersten, die von dem Verein damals unterstützt wurden – der Bunte Kreis ist für das komplette westliche Ruhrgebiet und den Niederrhein mit zuständig. Die ehrenamtlichen Ärzte und Mitarbeiter haben es sich zur Aufgabe gemacht, Familien von zu früh Geborenen, chronisch kranken Kindern oder solchen mit Behinderung auf ihrem Weg vom Krankenhaus in ein Leben zuhause zu begleiten.
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Dennoch war der Start für die Familie Heßeler alles andere als leicht. Drei Monate verbrachten Mutter und Tochter damals auf der Intensivstation, hofften und bangten. Silke Heßeler machte sich Sorgen um ihr Baby – und zugleich Vorwürfe, dass sie es nicht geschafft hatte, die Zwillinge neun Monate lang im Bauch zu behalten.
Duisburger Verein „Bunter Kreis“ hilft Familien seit 20 Jahren
„Ich habe mir eigentlich keine großen Gedanken über meine Schwangerschaft gemacht“, erinnert sich Silke Heßeler. Ihr ging es gut. Einmal ging sie mit einer Bekannten ein Eis essen – und bekam danach Bauchkrämpfe. Sie schob es darauf, dass sie die kalte Speise vielleicht nicht vertragen habe. Der Schock kam, als der Frauenarzt ihr eröffnete: Es sind Wehen.
Sie wurde in die Wedau Kliniken eingeliefert, bekam Wehenhemmer und eine sogenannte Cerclage, mit der der Muttermund verschlossen wird. Eine weitere Woche überstand sie im Krankenhaus. „Ich war wie benebelt“, erinnert sie sich. Beide Kinder kamen auf die Welt, doch der Sohn verstarb zwei Tage nach der Geburt. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich aussah wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war“, erinnert sich die Tochter.
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Nach der Geburt mussten die beiden noch drei Monate im Krankenhaus bleiben. Eine intensive Zeit, in der Ärzte und das Pflegepersonal unterstützten und sich Silke Heßeler auch mit anderen Betroffenen austauschen konnte. Doch wie würde es werden, wenn sie nach Hause kommt? Alles war für zwei Kinder vorbereitet.
Alltag der Familien muss nach einer Frühgeburt oft komplett neu organisiert werden
„Wir sind gut vernetzt in den Krankenhäusern und stellen die Arbeit des Bunten Kreises schon in der Klinik bei den Familien vor, bei denen Bedarf bestehen könnte“, erklärt die Kinderärztin und Vorstandsvorsitzende des Bunten Kreises, Dr. Gabriele Weber. Die Hilfe bezieht sich nicht nur auf medizinische Fragen. So müsse beispielsweise geklärt werden, wie die häusliche Situation der Familie ist. Wohnt sie etwa im Dachgeschoss eines Hauses ohne Aufzug? Müssen Geschwisterkinder versorgt werden? Welche Therapien stehen in den ersten Monaten an? „Als Bunter Kreis wollen wir die Versorgungslücke so weit wie möglich schließen und ein Netz ambulanter Hilfen knüpfen, das die Familie trägt.“
Neben der Sorge um das kranke Kind müsse der Alltag oft komplett neu organisiert werden. Die Familien bekommen vom Bunten Kreis eine sogenannte „Case Managerin“ an die Seite gestellt. Das sind speziell ausgebildete Kinderkrankenschwestern, die die Familien betreuen, „stützende Gespräche“ führen und die Hilfsangebote koordinieren.
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Die Arbeit finanziert sich aus Leistungen von Krankenkassen, Fördermitgliedschaften, Spenden, aber auch Bußgeldern, die an den Verein fließen. Die gesunden Geschwister sind in der Familie des kranken Kindes oft ungewollt benachteiligt, weil sie in die Versorgung einbezogen werden, an den Sorgen der Eltern mitleiden und das Leid des Geschwisterkindes auch sie belastet.
Jule Heßeler: „Ich war und bin genauso viel wert wie andere, nur kleiner“
„Ich wollte, dass Jule ein möglichst normales Leben führt und so viel mitmacht wie andere Kinder“, erklärt Silke Heßeler, warum sie ihre Tochter nicht in Watte packte, sondern möglichst viel gefordert und gefördert hat. Bei Besuchen bei Kinderärzten hieß es allerdings oft, dass Jule zu klein und zu zart sei. „In der Schule habe ich öfter mal einen doofen Spruch bekommen und die Leute haben mich gefragt, ob ich magersüchtig bin“, blickt die 18-Jährige zurück. Irgendwann nahm sie ihren Mut zusammen und hielt in der Schule ein Referat, wie es ist, zu früh geboren zu sein. Danach war Ruhe.
Den Ärzten möchte sie mit auf den Weg geben: „Ich habe mich durch alle Schwierigkeiten durchgekämpft und ich war und bin genauso viel Wert wie andere, nur kleiner. Man kann auch ein gutes Leben führen, wenn man nicht der Statistik entspricht.“ Auch ihren Eltern ist sie dankbar, dass sie zum Beispiel dafür gesorgt haben, dass sie mit fünf Jahren das Schwimmen lernen sollte. So schaffte sie noch vor der Einschulung ihr Bronzeabzeichen. „Allerdings bin ich im Wasser ganz schnell blau angelaufen und nur Traubenzucker hat geholfen, die Strecken durchzustehen.“
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In Deutschland überleben immer mehr Kinder, die zu früh geboren wurden – eine Folge des medizinischen Fortschritts. „Weltweit ist jedes zehnte Kind ein Frühchen, in Deutschland jedes neunte“, weiß Gabriele Weber. Allein im Duisburger Sana-Klinikum werden im Schnitt 100 Frühchen jährlich geboren, die unter 1500 Gramm wiegen.
Jule nahm als Kind an einem Seminar der Kinder-Uni teil, das sich mit Frühgeburten beschäftige. „Hier konnte ich viele Informationen sammeln, die mir nachträglich zeigten, was für eine unbeschreibliche Leistung Frühchen im täglichen Leben erbringen müssen. Was ich damit sagen möchte ist, dass ich glaube, dass jedes einzelne Frühchen oder jedes Kind, was mit Komplikationen leben muss, ein Kämpfer ist und nicht so schnell aufgeben wird.“ Für das kommende Jahr hat sie schon Pläne: Sie möchte ihr Fachabi machen und später selbst im sozialen Bereich arbeiten, um anderen zu helfen.