Duisburg. Hunderte Menschen protestieren in Duisburg gegen das Handeln Israels. Warum ihre Parolen antisemitisch sind und wie Prävention aussehen könnte.

Der zuletzt verschärfte Nahost-Konflikt hinterlässt in Duisburg Spuren. Hunderte, vorwiegend muslimische Demonstranten gehen auf die Straße. Zu sehen sind neben den Farben Palästinas oft türkische Fahnen, zu hören sind Parolen, die sich – je nach Auslegung – zwischen Kritik an der Regierung Israels und blankem Antisemitismus einordnen lassen. Eine Eskalation wie in Gelsenkirchen, wo es zu Beschimpfungen vor einer Synagoge kam, blieb in Duisburg bislang aus. Doch judenfeindliche Stereotype und Verschwörungsmythen wurden auch bei den Kundgebungen am Portsmouthplatz bedient.

„Kindermörder Israel“ lautet eine von den Demonstranten oft verwendete Parole. Die Staatsanwaltschaft sieht in ihr keine strafrechtliche Relevanz. „Aber aus gesellschaftspolitischer Sicht ist diese Aussage zu ächten“, sagt die Duisburger Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. Es sei nur eine von vielen antisemitischen Erzählungen, die es oft in die Mitte der muslimischen Bevölkerung geschafft hätten. „Diese Narrative spielen im Islamismus eine zentrale Rolle und stellen Israel als Ursache alles Schlechten dar“, erklärt die Bundestagskandidatin der Grünen.

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Antisemitismus „wichtiger Baustein des türkischen Nationalismus“

Dass sich die verbale Eskalation am dritten Mai-Wochenende in Gelsenkirchen ereignete und nicht in Duisburg, ist für Kaddor eher Zufall. „So etwas entsteht durch die Dynamik vor Ort. Da reicht ein Ansager, der eine bestimmte Parole vorgibt. Die Masse stimmt dann einfach mit ein.“

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Von Annette Kalscheur und Fabienne Piepiora

Auch die jüngsten Erfahrungen Duisburger Juden deuten nicht darauf hin, dass die Anti-Israel-Demonstranten hier zurückhaltender sind als in anderen Städten: Mitglieder der Gemeinde berichten von einer Zunahme von Hass-Nachrichten und sogar Todesdrohungen in den vergangenen Wochen.

Warum immer wieder auch türkische Fahnen bei den Demonstrationen zu sehen sind, hat zuletzt der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli in einem Interview mit dieser Zeitung erklärt: „Antisemitismus ist und war ein wichtiger Baustein des türkischen Nationalismus, auch der Partei MHP, die mit Erdogan ein Regierungsbündnis bildet.“ Küpeli, ebenfalls Duisburger, wies zudem darauf hin, dass ein großer Teil der Twitter- und Telegram-Meldungen des türkischen Staatssenders TRT zur aktuellen Lage im Nahen Osten als israelfeindlich zu bezeichnen sei.

Antisemitismus: Prävention gerade in Städten wie Duisburg wichtig

Lamya Kaddor, die an der Universität Duisburg-Essen lehrt und forscht, erarbeitet mit ihrem Team auch Bildungsangebote. „Gerade in einer Stadt wie Duisburg, mit einer ausgeprägten Einwanderungsgesellschaft, muss man bei jungen Menschen Präventionsarbeit leisten.“ Denn die in der islamischen Welt seit Jahrzehnten gepflegten, antisemitischen Narrative würden auch in die Erziehung und Sozialisation muslimischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland einfließen.

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Prävention dürfe aber nicht von der Motivation einzelner Lehrer oder Schulleiter abhängig sein. „Da muss sich strukturell etwas ändern“, sagt Kaddor. „Wir dürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob jemand antisemitismus- und rassismuskritisch geschult wird.“ Ziel müsse es sein, sprach- und kultursensibel Hintergrundwissen zu vermitteln, vor allem auch Begegnungen mit jüdischen Menschen zu ermöglichen. „Das ist ein Auftrag der Gesamtgesellschaft.“

Antisemitische Stereotype finden sich auch in der Mehrheitsgesellschaft

Sowohl Kaddor als auch Küpeli warnen davor, von „importiertem Antisemitismus“ zu sprechen. Zum einen habe es Antisemitismus in Deutschland schon vor der Einwanderung von Muslimen gegeben. „Antisemitische Stereotype finden sich auch in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, und zwar in der Mitte, nicht nur am rechten Rand“, betont Kaddor.

Küpeli erklärt zudem: „Selbst wenn man behaupten würde, dass Judenfeindlichkeit bei jungen Muslimen stärker vorhanden ist, redet man dabei größtenteils über Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind.“ Ihre Judenfeindlichkeit hätte sich damit in Deutschland formiert, sie wäre ein Produkt der hiesigen Gesellschaft. „Die Rede über den ‘importierten Antisemitismus’ schadet dem Kampf gegen Judenhass und eröffnet zusätzlich eine rassistische Erzählung.“

>>ISRAEL-KRITIK ODER ANTISEMITISMUS?

• Ob es sich bei einem Protest um Kritik an der Regierung Israels oder um offenen Antisemitismus handelt, hängt davon ab, ob er sich klar auf das Handeln der israelischen Staatsführung oder des Militärs bezieht, oder ob er „die Juden“ in ihrer Gesamtheit verantwortlich macht. Letzteres ist der Fall, wenn der Protest – wie in Gelsenkirchen – vor einer Synagoge stattfindet. „Darüber hinaus sollte Kritik an Israel nicht heißen, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen“, sagt Ismail Küpeli.

• Nicht immer ist es leicht, zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus zu unterscheiden. Zum oft zitierten Beispiel „Kindermörder Israel“ erklärt Lamya Kaddor: „Natürlich sterben im Krieg auch Kinder, dasselbe könnte man ja auch über die Hamas sagen. Aber die Parole bedient letztlich doch ein altes judenfeindliches Narrativ, das bis zum christlichen Antijudaismus des Mittelalters zurückzuführen ist.“

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