An Rhein und Ruhr. Grünen-Politikern Lamya Kaddor ist entsetzt über antisemitische Ausfälle auf Demos und fordert mehr Unterstützung für Präventions-Programme.
In den vergangenen Tagen demonstrierten auch in NRW Menschen gegen die Gewalt-Eskalation zwischen Israel und Palästinensern. Vielerorts kam es zu antisemitischen Vorfällen. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor warnt davor, dass Antisemitismus in breite Teile der muslimischen Bevölkerung eingesickert sei. Zugleich wirbt die Grünen-Politikerin für eine bessere Finanzierung von Präventions-Programmen gegen Antisemitismus.
Frau Kaddor, auf etlichen der Demonstrationen gegen die neue Eskalation in Nahost kam es in den vergangenen Tagen zu teils üblen antisemitischen Ausfällen von muslimischen Menschen. Was haben Sie bei den Bildern empfunden?
Fassungslosigkeit und Wut. Ich habe das als eine Schande empfunden.
Es leben fünf Millionen Muslime in Deutschland. Einige Tausend waren auf der Straße. Ist das eine kleine und radikale Minderheit oder geben diese Demonstranten ein weiter verbreitetes Stimmungsbild wieder?
Ich würde sogar sagen, dass diese meistens islamistisch geprägten antisemitischen Narrative es oftmals sehr weit in die Mitte der muslimischen Bevölkerung geschafft haben. Das sind Narrative, die in der islamischen Welt seit Jahrzehnten gepflegt werden und die sich somit auch in die Erziehung und Sozialisation von muslimischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland einschreiben.
Hat die Mehrheitsgesellschaft nicht genau hingeschaut?
Es wäre zu einfach zu glauben, die Mehrheitsgesellschaft wäre frei von Antisemitismus. Das ist nicht nur ein Problem von Muslimen oder Migranten. Es gibt unterschiedliche Formen von Antisemitismus, die manchmal verschmelzen, also biologischen, religiösen oder politischen. Wir sprechen seit Monaten über antisemitische Tendenzen in der Querdenker-Szene oder einen Herrn Maaßen oder Herrn Hildmann, die antisemitische Stereotype verbreiten.
Die Empörung ist jetzt allerdings größer. Möglicherweise auch deshalb, weil man nun auf „die anderen“ zeigen kann?
Ja, man kann das durchaus als Versuch der Ablenkung verstehen. Die aktuellen Geschehnisse sind fürchterlich. Aber wir erleben immer dann, wenn muslimische Jugendliche derart antisemitisch ausfällig werden, eine Art Schuldumverteilung. Dann fordern plötzlich Politiker wie Innenminister Horst Seehofer härteste Strafen, die sich in den vergangenen Monaten erstaunlich still verhalten haben. Das ist bigott und facht möglicherweise auch die Wut unter diesen Jugendlichen an.
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Inwiefern?
Wenn diese muslimischen Jugendlichen das Gefühl haben, bei ihnen werde ganz besonders hingeschaut, dann haben sie den Eindruck, dabei spiele Islamfeindlichkeit eine Rolle. Das Perfide ist: Auch unbescholtene muslimische Bürger erfahren tatsächlich mehr Islamfeindlichkeit, wenn auf diesen Demonstrationen antisemitische Parolen gebrüllt werden. Sie schaden damit auch anderen Muslimen. Und es wird zudem einmal mehr eine Minderheit gegen eine andere ausgespielt.
Neu ist das alles nicht. Auch beim Gaza-Krieg 2014 gab es antisemitische Ausfälle auf Demonstrationen. Was ist 2021 anders?
Wir haben an der Uni Duisburg-Essen junge Menschen zum Thema Antisemitismus interviewt. Dabei hat sich gezeigt, dass muslimische Jugendliche nicht per se antisemitischer sind als andere. Was uns insgesamt auffiel, und was sehr erschreckend war, ist, dass Erinnerungskultur bei Jugendlichen jenseits der Schule keinen Platz mehr findet. Was in Deutschland geschehen ist, ist fern von ihrem Leben, sie haben kaum Kenntnisse von der Lebendigkeit jüdischen Lebens heute und viele glauben, dass der Holocaust sich wiederholt, etwa bei der Unterdrückung der Uiguren in China. Kaum jemand hatte Kenntnisse über den Nahost-Konflikt.
Den Eindruck hat man allerdings auch bei vielen der Demonstranten…
…ja, ich glaube, die wenigsten, die vor Synagogen stehen, wissen, was da vor Ort wirklich passiert. Ich denke, die allerwenigsten sind palästinensischstämmig, was man ja auch an den Fahnen sieht, die dort präsentiert werden. Viele sind wohl einfach da, um ihrer Wut freie Bahn zu lassen.
Der Nahostkonflikt hat in der muslimischen Community trotzdem ein andere Mobilisierungs- und Empörungspotenzial als die Internierung von einer Million muslimischer Uiguren in chinesischen Umerziehungscamps, die Vertreibung der muslimischen Rohingya aus Myanmar oder der Genozid an den Jesiden im Nordirak durch den IS. Woran liegt das?
Dieser Konflikt wird seit Jahrzehnten von unterschiedlichsten Hardlinern emotional aufgeladen und ideologisch gefüttert. Es gibt ja auch anti-arabische und anti-muslimische Tendenzen auf der pro-israelischen Seite. Es gibt aber vor allem den religiösen Aspekt: Für Juden ist Israel das gelobte Land, für Muslime ist Jerusalem die drittwichtigste religiöse Stätte nach Mekka und Medina. An die Stadt sind in beiden Religionen theologisch konkrete Endzeitvorstellungen geknüpft. Da spielt die Symbolik auch eine sehr große Rolle – leider kämpft man im wahrsten Sinne des Wortes um das Heilige Land.
Welche konkreten Gegenstrategien gegen den Antisemitismus brauchen wir?
Wir müssen dringend Konzepte für Erinnerungskultur im außerschulischen Kontext erarbeiten und die Lebendigkeit von jüdischem Leben in Deutschland sichtbarer machen.
Gilt das nur für Schüler oder auch für ältere Menschen, die in den vergangenen Jahren aus Ländern wie Syrien zugewandert sind, in denen die Feindschaft zu Israel zur Staatsräson gehört?
Gerade in Integrations- und Orientierungskursen ist das wichtig. Aber die wenigsten Pädagogen, Erzieher und Lehrer wollen sich damit auseinandersetzen, weil man sich eigentlich nur in die Nesseln setzen kann. Die allerwenigstens wissen um die verschiedenen Formen des Antisemitismus, um Islamfeindlichkeit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder kennen sich im Detail in der israelischen, syrischen oder deutschen Geschichte aus. Aber das müssten sie innerhalb kürzester Zeit in den Kursen behandeln und zudem in einer Sprache, die die Teilnehmenden meist nicht gut beherrschen. Das ist sehr unbefriedigend und da müssen wir besser hinschauen.
Und außerhalb solcher Kurse und schulischer Angebote?
Wir brauchen eine Verstetigung und Regelfinanzierung von Projekten, und wir müssen vor allem diejenigen schulen und weiterbilden, die zum Thema Antisemitismus-Prävention arbeiten.
Sie treten für die Grünen in Duisburg bei der Bundestagswahl an. Hat ihre Partei entsprechende Konzepte oder gibt es Nachholbedarf?
Es gibt bei allen Parteien Nachholbedarf. Ich habe aber entsprechende Veränderungsanträge für unser Wahlprogramm gestellt. Wir müssen uns darauf verpflichten, solche Präventions-Programme dauerhaft zu finanzieren. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Wir werden niemals den Antisemitismus oder den Rassismus in diesem Land komplett besiegen können. Es wird immer einen Basis-Satz von Menschen geben, die solchen Ideologien anhängen. Wir müssen dafür arbeiten, dass es weniger und nicht mehr werden.
Bei den jüngsten Kommunalwahlen haben die Grünen in Bielefeld einen Funktionär von Milli Görüs aufgestellt. Die Organisation wird vom Verfassungsschutz beobachtet, auch wegen antisemitischer Tendenzen. Sind die Grünen bei muslimischem und migrantischem Antisemitismus zu nachsichtig?
Ich glaube nicht, dass man von einem Einzelfall darauf schließen kann. Aber in der Vergangenheit sind viele soziale Konflikte und problematische Positionen tatsächlich nicht gesehen worden, allerdings nicht nur von uns Grünen. Man hat oft die Komplexität einfach nicht verstanden. Und andererseits möchte man niemanden wegen einer möglichen Kontaktschuld selbst diskriminieren.