Gelsenkirchen. Nach der antijüdischen Demo in Gelsenkirchen: Politologe Küpeli erklärt islamischen Antisemitismus und warnt davor, ihn als Import zu bezeichnen.
Ismail Küpeli tritt oft dann vor die Kameras, wenn es um Antisemitismus und den Umgang mit Minderheiten in der Türkei, aber auch in Deutschland geht. Als Projektleiter bei der Amadeu Antonio Stiftung, die in der Demokratieförderung engagiert ist, hat der Politikwissenschaftler die antijüdischen Proteste vor der Neuen Synagoge in Gelsenkirchen genau beobachtet. Für ihn ist klar: Aus den Vorfällen sollten dringend Lehren gezogen werden.
Herr Küpeli, ob NRW-Innenminister Reul oder Gesundheitsminister Spahn: Politische Amtsträger warnen nach den pro-palästinensischen Demos in Gelsenkirchen und anderen deutschen Städten vor „importiertem Antisemitemismus.“ Sie dagegen sagen: „Deutschland musste den Antisemitismus nicht importieren“. Juden-Hass ist also kein Produkt von Einwanderung und Globalisierung?
Ismail Küpeli: Die Rede über den „importierten Antisemitismus“ schadet dem Kampf gegen Juden-Hass und eröffnet zusätzlich eine rassistische Erzählung. Vielmehr zeigt die empirische Forschung, dass antisemitisches Gedankengut nicht auf bestimmten Gruppen begrenzt ist. Aber selbst wenn man behaupten würde, dass Judenfeindlichkeit bei jungen Muslimen stärker vorhanden ist, redet man dabei ja größtenteils über Menschen, die hier in Deutschland aufgewachsen sind. Ihre Judenfeindlichkeit hätte sich damit hier in Deutschland formiert, sie wäre ein Produkt der hiesigen Gesellschaft. Man würde das Problem also sicher nicht lösen, indem man mehr Menschen abschiebt. Vielmehr muss man verstehen, dass sich der Antisemitismus aus verschiedenen Quellen speist.
Welche Quellen sind das?
Antisemitismus zeigt sich in esoterischen Strömungen, die von einer neuen Weltordnung sprechen. Das kann dann kombiniert werden mit islamistischen, nationalistischen oder rechtsextremen Argumenten, quer durch alle Bildungsschichten.
Dennoch sprechen auch Sie von einem „islamischen Antisemitismus“. Wie definieren Sie diesen?
Charakteristisch für den Antisemitismus, der in manchen muslimischen Communities in Deutschland entsteht, ist der Glaube, dass der Holocaust mit einem nichts zu tun habe und man sich deswegen - anders als die Mehrheitsgesellschaft - bei seinen Äußerungen nicht zurückhalten müsse. Man glaubt es, sich leisten zu können, die Situation der Muslime oder die der Palästinenser mit der Situation der Juden im Dritten Reich vergleichen zu können. Dies geht auf eine merkwürdige Interpretation des Antisemitismus zurück: Man glaubt dass dieser allein in NS-Deutschland zwischen 1933 und 1945 stattgefunden habe und Juden jetzt nicht mehr geschützt werden müssen.
Dennoch: Wie kann man, etwa als Mensch mit palästinensischen Wurzeln, Kritik an Israels Politik äußern, ohne dabei ein antisemitisches Weltbild zu reproduzieren?
Klar ist: Menschen mit jüdischem Glauben haben mit dem Konflikt erst einmal nichts zu tun. Die antijüdische Demo in Gelsenkirchen hat aber gezeigt, dass genau sie dafür verantwortlich gemacht werden. Selbst wenn es ein friedlicher Protest für Palästina gewesen wäre: Er gehört nicht vor eine Synagoge. Darüber hinaus sollte Kritik an Israel nicht heißen, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen. Sehr viele Leute biegen dann aber schnell falsch ab. Nicht selten wird die Solidarität für Palästina auch als ein Weg genutzt, um den Antisemitismus mit vermeintlich nachvollziehbaren Argumenten und Rechtfertigungen zu versehen, es ist dann eine als Israel-Kritik gekleidete Form des Antisemitismus. [Lesen Sie hier:Nach Hass-Demo: Gelsenkirchen steht auf gegen Antisemitismus]
Welche Konsequenzen sollte die Stadt Gelsenkirchen nun aus den Vorfällen ziehen?
Ein klares Zeichen der Solidarität und Unterstützung vor Ort muss der erste Schritt sein - was natürlich nicht ausreicht. Im Anschluss muss intensive politische Aufklärungsarbeit folgen, sowohl in der Kinder- und Jugendlichen wie auch in der Erwachsenenbildung. Es sollte Dialog-Plattformen, etwa mit Moscheegemeinden und anderen muslimischen Organisationen geben, in denen Äußerungen in einem geschützten Raum fallen können, damit man genau weiß, wo man ansetzten kann.
Studiert in Bochum und Essen
Ismail Küpeli arbeitet aktuell an seiner Dissertation über die kurdische Frage in der Türkei an der Universität zu Köln. Die Promotion wird durch ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.
Den Bachelor-Abschluss in Orientalistik und Politikwissenschaften machte der 42-Jährige an der Ruhr-Universität-Bochum. den Master in Internationalen Beziehungen und Entwicklungspolitik an der Uni Duisburg-Essen.
In Gelsenkirchen sind die Moscheegemeinden vor allem bei DITIB organisiert. Ist das aus Ihrer Sicht die richtige Adresse für mehr Zusammenarbeit gegen Antisemitismus?
Natürlich kann man einfordern, dass sich die Moscheeverbände eindeutig gegen Antisemitismus positionieren - das hat DITIB nach den Aufmärschen vor den Synagogen ja jetzt auch getan. Da DITIB nach meiner Einschätzung allerdings von der türkischen Regierung kontrolliert wird und die dortige Politik unmittelbar Auswirkungen auf DITIB hat, ist der Verband nicht der optimale Partner, um den Antisemitismus in Deutschland grundsätzlich anzugehen. Antisemitismus ist und war ein wichtiger Baustein des türkischen Nationalismus, auch der Partei MHP, die mit Erdogan ein Regierungsbündnis bildet. Die türkischen Nationalisten der „Grauen Wölfe“ waren auch bei der Demo in Gelsenkirchen sehr präsent.
Sie haben kürzlich aufgezeigt, dass ein großer Teil der Twitter- und Telegram-Meldungen des türkischen Staatssenders TRT zu der aktuellen Lage im Nahen Osten als israelfeindlich zu bezeichnen sind. Sind Projekte zur interreligiösen Verständigung nicht dann zum Scheitern verurteilt, wenn ein Junge mit türkischen Wurzeln nach Hause kommt und dort TRT-Nachrichten im Wohnzimmer der Eltern laufen?
Noch wichtiger als Bildungsprojekte ist es deshalb, Vorbilder für Jugendliche zu finden, die auf die Communities einwirken und sich deutlich gegen Antisemitismus positionieren. Es muss nicht immer gleich ein Star sein, aber ein Gelsenkirchener, der von den Jugendlichen anerkannt wird, dessen Wort man ernst nimmt. Der Schlüssel für eine Veränderung dieser Situation liegt also in der Tat bei den Kindern und Jugendlichen - man muss sie aber in ihrer Lebensrealität abholen.