Duisburg. Am 24. April 1901 wurde das „Mercator“ als „lateinlose Realschule“ eröffnet. Ehemalige Lehrer und Schüler blicken zurück – inzwischen gelassen.
Das „Mercator“ ist das jüngste Gymnasium im Bezirk Duisburg-Mitte – wobei „jung“ in diesem Fall relativ ist. Im Jahr 1900 beschlossen Politiker, dass es neben dem „Landfermann“ und „Steinbart“ eine „lateinlose Realschule“ geben solle. Am 24. April 1901 wurde die Schule schließlich eröffnet. Zum runden Geburtstag fällt die große Sause aus, Ehemalige schicken stattdessen Grüße per Video.
Immerhin: Die Schule setzte schon vor Jahrzehnten auf eine gute technische Ausstattung – der Online-Unterricht läuft problemlos und dank engagiertem Team rund um Rektorin Dr. Wibke Harnischmacher hat auch der Zusammenhalt auf Distanz kaum gelitten.
In 120 Jahren ist viel passiert: In der „lateinlosen Realschule“ wurde zunächst Französisch als erste und Englisch als zweite Fremdsprache unterrichtet. „Die höhere Schule müsse die Schranken, die sie in früheren Zeiten zwischen Wissen und Volksleben gestellt habe, niederreißen und zur Lösung der sozialen Frage beitragen“, hieß der fortschrittliche Ansatz, der zu Beginn formuliert wurde. Bevor das Gymnasium ins heutige Gebäude an der Musfeldstraße zog, leitete Dr. Quintin Steinbart den Betrieb. Die beiden Gymnasien stehen zwar in gewisser Weise in Konkurrenz zueinander, die Geschichte ist dennoch eng miteinander verwoben. 1926 bekam die „städtische Oberrealschule für Jungen“ den Namen „Mercatorschule“. Erst 1966 meldeten sich erstmals Mädchen an.
Geschichte der Duisburger Gymnasien „Steinbart“ und „Mercator“ ist eng verknüpft
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden „Steinbart“ und „Mercator“ wieder zusammengelegt und teilten sich gemeinsame Räume. „Beide Schulen betrieben außerdem ein Landschulheim, in das die Klassen regelmäßig Ausflüge machten“, erinnert sich Friedrich Wilhelm Krücken, der die Schule zwischen 1978 und 1993 leitete und bereits viele Jahre zuvor prägte. Er hatte Philosophie, Mathematik, Astronomie und Psychologie studiert, war einer der Ersten, die Mercators Schriften auf Latein las und sich mit den mathematischen Grundlagen der Kartographie des berühmten Universalgelehrten beschäftigte. In einer Arbeitsgemeinschaft „Experimentelle Mathematik“ ging er mit den Jugendlichen der Sache auf den Grund. 2012 wurde Krücken für seine Forschung die Ehrendoktor-Würde der Uni Duisburg-Essen verliehen.
Ob er streng war? So recht mag der mittlerweile Über-90-Jährige die Frage nicht beantworten. Er sagt lieber: „Ich war konsequent.“ Die Kinder mussten also nachvollziehen können, warum sie eine Strafe aufgebrummt bekamen. Auf der anderen Seite stand die Tür des Direktors immer offen. „Das hat sich bis heute nicht geändert“, betont Wibke Harnischmacher. Und wenn sich auf dem Schulhof mal zwei Jungs aus verschiedenen Ländern prügelten, dann wussten die Teenager, dass Krücken vermittelte.
Woher der Beiname „Akademie von Hochfeld“ kam
Die Tatsache, dass am „Mercator“ schon immer auch Kinder aus Arbeiterfamilien unterrichtet wurden, brachte der Schule früher den spöttischen Beinamen „Akademie von Hochfeld“ ein. „Die Weltpolitik spielte auch auf dem Schulhof eine Rolle“, erinnert sich Krücken. Er und das Kollegium sahen es als Aufgabe an, den Kindern durch Bildung Türen zu öffnen und einen neuen Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln. „Das ist heute noch so und viele Eltern wissen genau das zu schätzen“, betont Wibke Harnischmacher, wie wichtig Schule für die Bildungskarriere ist. Mittlerweile ist das „Mercator“ offizielle „Talentschule“ und der Slogan lautet stolz: „Jung. Herzlich. Talentiert“. „Neben der naturwissenschaftlich-technischen Ausrichtung setzen wir musische Schwerpunkte.“
Schon in den 1970er Jahren war das Gymnasium Vorreiter und die erste Schule, die einen riesigen IBM-Computer anschaffte. „Wir mussten das Schullandheim verkaufen und hatten deshalb 56.000 Mark in der Kasse. Da kam ein Vater, der bei Mannesmann arbeitete, auf uns zu und erzählte uns von den Maschinen, die die Arbeit erleichtern würden.“ Krücken überlegte, holte Genehmigungen in Düsseldorf ein und investierte rund 42.000 Mark. In Kursen bekamen die Schüler schließlich den Umgang mit dem Riesengerät beigebracht. „Und als die Jungs nicht wollten, dass auch die Mädchen in die Informatik-Arbeitsgemeinschaft kamen, habe ich eben auch eine für sie angeboten.“ Noch heute organisieren die Kollegen vom „Mercator“ die Informatik-Fortbildungen auch für andere Lehrer in Duisburg.
Mercator-Gymnasium sollte zur Gesamtschule umgewandelt werden
Zwischenzeitlich, als in den 1980er Jahren von der Politik ein neuer Schulentwicklungsplan beraten wurde, stand das „Mercator“ auf einer Streichliste – es sollte in eine Gesamtschule umgewandelt werden. Eltern, Lehrer und Schüler organisierten Proteste, und erreichten so, dass die Zukunft gesichert wurde.
Der Titel „Talentschule“ bringt dem Gymnasium nicht nur eine zusätzliche Förderung, sondern auch Aufmerksamkeit. „Es besuchen uns immer noch viele Kinder aus der näheren Umgebung. Wir haben aber auch zunehmend Eltern und Schüler, die sich bewusst für uns entscheiden, weil sie unser Profil und das Miteinander bei uns gut finden“, weiß Harnischmacher. Die Anmeldezahlen steigen wieder. Das „Mercator“ hat sich in der Duisburger Schullandschaft fest etabliert. Übrigens: Zum Leidwesen einiger Schüler wird längst auch Latein unterrichtet.
Mercator-Gymnasium prägt Generationen: Familie Köksalan-Kolecki erzählt
„Riecht immer noch so wie früher“, sagt Tim Köksalan, als er mit seiner Frau Jannine und Sohn Luke den Kunstraum betritt – das erahnt er sogar durch seine Maske. Rasch schweift sein Blick über die alten Tische, ob sich vielleicht noch alte Kritzeleien von ihm darauf finden. „Ich habe bleibenden Eindruck hinterlassen“, erzählt er und grinst breit. So mancher Lehrer könnte das wohl bestätigen. 2004 machte der 38-Jährige Abi, zwei Ehrenrunden inklusive.
Mit Mathe und Latein stand er auf Kriegsfuß, dennoch ist er eigentlich ganz gerne zur Schule gegangen. Immerhin, das Abi schaffte er mit einem Schnitt von 3,3 – und mit seinem Praktikum beim Fernsehsender Viva beeindruckte er nicht nur seinen Physik-Lehrer, sondern ebnete vielleicht auch den Weg zu seinem heutigen Job als WDR-Reporter. Dabei hatten ihn seine Mitschüler in der Abi-Zeitung noch als „Mister Gerüchteküche“ betitelt.
Köksalan, Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, fühlte sich jedenfalls von seiner Schule gut auf das Leben vorbereitet: „Ich hatte bei vielen Freunden von anderen Schulen immer das Gefühl, dass Ausländer für sie ein bisschen exotisch sind. Bei uns war es überhaupt kein Thema, dass da zehn verschiedene Nationalitäten im Klassenraum saßen.“ Und: Früher unkte mancher, dass der Unterricht an den anderen beiden Schulen viel anspruchsvoller sei. „Einer hat sogar in der Oberstufe gewechselt, musste dann aber doch wieder zum ,Mercator’ kommen, weil hier sein Leistungskurs stattfand.“
„Lehrer und Schüler haben ein gutes Miteinander“
Jannine Köksalan-Kolecki hat ihr Abitur 1994 am Mercator-Gymnasium gebaut. In den ersten Jahren wurde sie sogar noch samstags unterrichtet. Ihr Abi war wesentlich besser als das von Ehemann Tim – die Prüfungen in Deutsch, Geschichte, Englisch und Bio ergaben am Ende die Durchschnittsnote 1,8. Mehr als das Fachwissen haben sie aber andere Erfahrungen geprägt. „Ich war in der Theater-AG. Gemeinsam mit den anderen habe ich viele Nachmittage in der Aula verbracht und geprobt. Das hat Spaß gemacht und mich für mein Leben geprägt.“ Auch, dass das „Mercator“ die Möglichkeit bot, an Austauschprogrammen teilzunehmen, fand die heutige Radio-Duisburg-Moderatorin toll – das hatte nicht jede Schule zu bieten. „Der damalige Leiter hat neben seinem Lehrerjob unendlich viel Zeit und Energie investiert. Das rechne ich ihm hoch an.“
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Mit Luke Kolecki besucht nun schon die zweite Generation der Familie das „Mercator“. Der 17-Jährige ist im vergangenen Jahr von der Realschule auf das Gymnasium gewechselt. „Ich möchte gerne zur Polizei und da habe ich mir gedacht, dass es besser ist, Abitur zu machen.“ Obwohl er wegen der Corona-Pandemie bisher kaum direkten Kontakt mit Mitschülern und Lehrern hat, ist er trotzdem zufrieden. Der Unterricht sei anspruchsvoll, aber „die Lehrer haben es voll drauf die Sachen so zu erklären, dass man sie versteht und auch weiß, warum man sie braucht“.
Auch Mama Jannine hat heute noch einen guten Eindruck von ihrer ehemaligen Schule. „Beim ersten Elternabend wurde betont, dass die Lehrer die Schüler im Blick haben und es ein gutes Miteinander ist. Das stimmt wirklich.“ Zum Schul-Geburtstag würde sich Luke Kolecki wünschen, dass er bald mal wieder einen Klassenraum von innen sieht. „Ich finde es auf jeden Fall gut, an einer Schule mit Geschichte zu sein.“