Dortmund/Ruhrgebiet. . Ein ehemaliger Leichtathletiktrainer aus Castrop-Rauxel hat vor Gericht eingeräumt, sich über Jahre an seinen Sportlerinnen vergangen zu haben. Der Angeklagte hat 62 der insgesamt 63 Tatvorwürfe eingeräumt. Sein ehemaliger Sportverein kämpft ums Überleben.
Als im April 2011 eine Mutter den Leichtathletiktrainer ihrer Tochter anzeigt, ahnt im Castroper Turnverein 1874 noch niemand das Ausmaß der schwerwiegenden Vorwürfe. Der Trainer soll intime Fotos seiner jungen Sportlerinnen gemacht haben, hatte das Mädchen zu Hause erzählt.
Polizisten durchsuchen daraufhin die Wohnung des Mannes – und finden Tausende Bilder, heruntergeladen aus dem Internet, aber auch selbst fotografiert: knapp bekleidete Mädchen im Geräteraum einer Turnhalle, im Auto, in einer Dachgeschosswohnung, im Grünen. Auf manchen Fotos fasst der Trainer die Mädchen an. Außerdem finden die Polizisten 400 Videos. Um das Material auszuwerten, braucht die Staatsanwaltschaft Monate.
Vorwürfe ausgeweitet: 63 Fälle
Zwei Jahre später, im vergangenen Sommer, beginnt in Dortmund am Landgericht der Prozess gegen den Trainer. Die Vorwürfe haben sich bis dahin ausgeweitet: sexueller Missbrauch von 18 Kindern in 63 Fällen, berichtet die Anwältin mehrerer Betroffener.
Am Donnerstag wurde die Verhandlung gegen den 58-Jährigen neu aufgenommen: 62 der 63 Tatvorwürfe hat der Angeklagte vor dem Landgericht Dortmund eingeräumt. Damit ersparte er einem Großteil der Betroffenen die Aussage. Einzig den schweren sexuellen Missbrauch, also die Vergewaltigung eines Mädchens in den 1990er-Jahren streitet der 58-jährige Mann ab.
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Gleich wie das Urteil ausfällt, das Vertrauen in den Verein hat gelitten. In weniger als drei Jahren hat sich seither gut ein Drittel der Vereinsmitglieder abgemeldet. Die Leichtathletikabteilung gibt es nicht mehr.
„Das ist bitter“, sagt die im vergangenen Jahr neu gewählte Vorsitzende Barbara März. „Das hat uns damals überrollt.“ Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Bemühungen von Sportvereinen, sexuellen Missbrauch zu verhindern: Zwar bietet der Landessportbund NRW allerhand Hilfen und Aufklärung an, beides erreicht die Vereine allerdings kaum.
Dem Angeklagten vertraut
„Das ist die große Übersetzungsfrage“, erklärt der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, der im vergangenen Jahr 12.000 Vereine nach ihren Präventionsmaßnahmen gefragt hat. „Es gibt einen typischen Abwehrmechanismus, der bei dem Thema freigesetzt wird.“ Viele Vereine würden sexuellen Missbrauch gar nicht als Gefahr für ihre Kinder und Jugendlichen erkennen.
Auch im Fall des angeklagten Leichtathletiktrainers sagt Barbara März: „Wir haben dem Mann voll vertraut.“ Ein gutes Jahrzehnt war der Trainer Mitglied im Castroper TV. Etwa die Hälfte der Zeit hat er die Leichtathleten angeleitet.
Übungsleiter müssen heute Ehrenkodex unterzeichnen
„Er hat sich sehr engagiert“, sagt Britta Bohle, die Geschäftsführerin des CTV. „Diese Leute fallen einfach jahrelang nicht auf. Sie sind wunderbare Täuscher. Aber man kann nicht jeden unter Generalverdacht stellen“ – schon gar nicht die, die sich besonders einbringen. Viele Vereine sind froh um jeden, der sich ehrenamtlich engagiert.
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Bohle erinnert sich mit Schrecken an die Tage nach der Anzeige. Der Verein hat damals schnell reagiert, mit Experten der Polizei und des Vereins „Kinderkanzlei“ zusammengearbeitet, den Fall öffentlich gemacht, den Eltern einen Brief geschrieben, zu einem Info-Abend eingeladen. „Und dann saßen da junge Leute und haben uns nicht geglaubt. Der Mann war unheimlich beliebt.“
Mittlerweile müssen die Übungsleiter des Vereins einen Ehrenkodex unterschreiben und kennen den Handlungsleitfaden für Verdachtsfälle, beides wie vom Landessportbund empfohlen. Der CTV hat auch eine neue Stelle geschaffen: einen Ansprechpartner für „Prävention und Intervention sexueller Gewalt“.
Mädchen müssen aussagen
„Ich glaube aber, dass solche Werkzeuge nur begrenzt helfen“, sagt Bohle. „Man muss vor allem die Kinder stärken“ – damit sie erzählen, wenn ihnen Unangenehmes widerfährt und nicht den Falschen vertrauen.
Weil der ehemalige Trainer ein Geständnis nur in Teilen abgab, werden einige Mädchen vor Gericht aussagen müssen. Das Gutachten über Neigungen und Motivation des Angeklagten liegt nun vor.
Zuletzt hatte er seine Taten mit persönlichen Problemen begründet, in der Ehe, im Beruf, gesundheitlich. Britta Bohle ärgert sich sehr über solche Aussagen: „Das macht einen noch lange nicht zum Täter“ , schimpft sie. Sie werde den Prozess nicht verfolgen, sie könne das nicht, sagt sie. Der Fall ist in Castrop noch nicht verwunden.
Der Prozess wird am 29. Januar fortgesetzt.