Bottrop/Dorsten. Wenn überdurchschnittlich begabte Kinder mit dem Schulsystem kollidieren, wird es schwierig. So hilft der Herausforderung e.V. den Familien.

Mit drei Jahren beherrscht der Sohn von Stefanie Marzian (heute 12) bereits den Zahlenraum bis hundert. „Wir dachten, dass er es in der Schule wahrscheinlich leicht haben wird“, sagt die promovierte Naturwissenschaftlerin. Hatte er nicht, im Gegenteil. Seine Hochbegabung kombiniert mit einer kompromisslosen Authentizität bis hin zur Schulverweigerung aus Langeweile führten zu Schwierigkeiten im Regelbetrieb.

Verein Herausforderung berät Familien auch in Bottrop kostenlos

Die mühsame Suche nach Hilfe, nach Beratung und Unterstützung zusammen mit Pädagogin Daniela Kasche führte dazu, dass die beiden Dorstenerinnen 2021 den Verein Herausforderung gegründet haben. Der Abenteuerbus des Vereins – Büro, Beratungsstelle und Spieletreff in einem – ist inzwischen auch in Bottrop unterwegs. Anders als sie es bei spezialisierten Fachleuten selbst erfahren haben, konzipieren sie ihr Angebot für die Familien bewusst kostenlos.

Gemeinsames Ziel von Daniela Kasche und Neurophysiologin Stefanie Marzian ist es, Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu erreichen für überdurchschnittlich begabte Kinder, die ihr Potenzial aber nicht unbedingt in schulische Leistungen umsetzen können.

Blick in den Beratungsbus mit Dr. Stefanie Marzian, die nun auch hauptamtlich im Verein tätig wird. Pinguin Matilda ist das Maskottchen des Vereins Herausforderung. Es symbolisiert, dass jeder nur die richtige Umgebung braucht, um seine Stärken ausspielen zu können – wie der Pinguin das Wasser.
Blick in den Beratungsbus mit Dr. Stefanie Marzian, die nun auch hauptamtlich im Verein tätig wird. Pinguin Matilda ist das Maskottchen des Vereins Herausforderung. Es symbolisiert, dass jeder nur die richtige Umgebung braucht, um seine Stärken ausspielen zu können – wie der Pinguin das Wasser. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Auch Daniela Kasche bemerkte bei ihrem Sohn eine außergewöhnliche Cleverness, konnte sich ihn nicht im Regelschulsystem vorstellen und entschied sich für eine Montessori-Einrichtung mit individuelleren Förderungsmöglichkeiten. Aber: „Ich habe eigentlich den Ansatz: Es kann nicht sein, dass man in Deutschland Privatgeld bezahlen muss, um eine gute Schulbildung zu haben.“

Hochbegabt: „Bei der Inklusion müssen diese Kinder mitgedacht werden“

Beide waren an der Neuen Schule Dorsten tätig, einer 2018 gegründete Sekundarschule. Daniela Kasche habe als stellvertretende Schulleiterin ein pädagogisches Konzept geschrieben. „Das war meine Idee für die Schulgründung hier: Wenn Inklusion, dann müssen diese Kinder mitgedacht werden. Das heißt, auch diese Kinder brauchen ein eigenes Bildungsangebot.“

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Das Fehlen von diesem, egal an welcher Schule man schaue, sehen die beiden Vereinsgründerinnen mehr als kritisch. Für lernbehinderte Kinder gebe es Konzepte und Fachpersonal wie Sonderpädagogen und -pädagoginnen. Kasche und Marzian fordern Entsprechendes für die hochbegabten Kinder ab einem IQ von 130. „Die Kinder lernen anders, sie brauchen eine entsprechende Methodik und Didaktik – und nicht nur ein Schneller.“

Begabtenpädagogen aber gebe es nicht; „es gibt ja keine Ausbildung dafür in Deutschland“. Dabei gebe es statistisch gesehen genauso viele Hochbegabte wie Lern- und geistig Behinderte; nur würden Erstere oft genug gar nicht erst identifiziert. Oder erhielten die Kinder, wenn sie auffällig werden, sogar Falschdiagnosen wie ADHS oder Autismus; bringen im Regelsystem keine Leistung statt besonders gute.

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Die Lehrerinnen und Lehrer seien also auf hoch intelligente Kinder fachlich nicht vorbereitet, stellen die Vereinsgründerinnen fest. Marzian: „Und dann springt Folgendes an: Entweder können die Eltern sich dann privat Unterstützung holen – oder nicht. Damit kumulieren wir die Nachteile des Systems bei sehr intelligenten Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien.“ Diese seien allein aufgrund äußerer Merkmale – vielleicht tragen sie Jogginghose und Kapuzenpulli, sind kräftiger gebaut, haben einen Migrationshintergrund – gefährdet, in einer Schublade weit weg von Hochbegabung zu landen.

Der Abenteuerbus des Vereins Herausforderung ist regelmäßig in Bottrop unterwegs - für Beratungen und als Spieletreff.
Der Abenteuerbus des Vereins Herausforderung ist regelmäßig in Bottrop unterwegs - für Beratungen und als Spieletreff. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Stefanie Marzian erläutert einen Grundsatz des Vereins: „Wir sehen Hochbegabung als Abweichung vom Schnitt – nicht als höher, schneller, weiter. Wir sind eher die inklusive Fraktion.“ Liege diese alleine vor, laufe es erfahrungsgemäß im Regelschulsystem häufig rund. Oftmals komme zur Hochbegabung aber noch etwas anderes hinzu – von einer Hochsensibilität über eine Hochreaktivität (explosiv wie ein Vulkan/Ablehnung von Fremdbestimmung) bis hin zu einer Lese-Rechtschreibschwäche. Dann werde es ganz schnell schwierig, weil gängige Hilfsangebot auf diese Kinder schlicht nicht passen.

Anliegen, mit denen Eltern auf den Verein zukommen, seien meist nicht der Art, dass sie wollen, dass ihr Kind ein, zwei Klassen überspringt. „Die Eltern kommen mit ganz viel Unsicherheit.“ Herausforderung e.V. bietet ihnen in dieser Situation eine Familienberatung an, die kostenfrei ist. In einer Örtlichkeit – dem Abenteuerbus – die in keiner Weise an eine Praxis erinnern soll; „die Kinder sind nicht krank“.

Aufgebaut wurde auch ein Spieletreff, der inzwischen dank der Hilfe engagierter Eltern nicht nur in Dorsten, sondern auch in Borken und Bottrop stattfindet. Dort tauschen sich die Eltern aus, während die Kinder miteinander agieren – mal ganz ohne das Label, anders als die anderen in der Gruppe zu sein. „Und es ist nicht so, dass sie hier die ganze Zeit Schach spielen müssen!“

Info und Kontakt

Der Verein Herausforderung ist auf Spenden angewiesen, um seine Arbeit durchführen zu können. Für den Spieletreff in Bottrop gab’s zum Beispiel eine Startfinanzierung durch die Sparkasse.

Der Verein bietet auch regelmäßig Fachvorträge in der Bottroper Volkshochschule an.

Betreut werden aktuell Kinder im Alter von drei bis 16 Jahren. Viele sind hochbegabt und gleichzeitig hochreaktiv, was für die Familien eine besondere Herausforderung darstellt.

Weitere Informationen zum Verein, wie man Mitglied wird und wann der nächste Spieletreff-Termin in Bottrop stattfindet gibt es auf der Homepage herausforderung.online

Eine Kontaktaufnahme ist möglich über info@herausforderung.online