Bottrop. Merles Eltern war früh klar, dass ihre Tochter mehr Hilfe und Förderung braucht. Die Bottroper finden: In Sachen Inklusion ist noch viel zu tun.

Ein sonniger Nachmittag im Garten, und alle sind dabei: Merle (3) und ihr großer Bruder (6) toben auf dem Trampolin. Mama Silke und Papa Philipp (beide 39) schauen aufmerksam-entspannt zu. „Sie machen oft Quatsch zusammen“, sagt die Bottroperin über ihre Kinder. Und könnte glücklicher darüber nicht sein.

Denn dass Merle überhaupt so aktiv sein und Quatsch mit ihrem Bruder machen kann, war nicht immer klar. Das Mädchen lebt mit einer Behinderung, die das Familienleben dieser Vier prägt. Und sie zu einer ganz eigenen Normalität hat finden lassen.

„Die Zeit der Ungewissheit war schlimm“

Die Diagnose Kleefstra-Syndrom erhielten Merle und ihre Familie kurz vor ihrem zweiten Geburtstag. „Wir wussten aber deutlich früher, dass mit ihr etwas anders ist als mit ihrem großen Bruder“, sagt Silke. Als Merle sieben, acht Monate alt war, empfanden die Eltern die Entwicklungsverzögerung ihrer Tochter als so auffällig, dass sie auf eine Diagnostik bestanden. „Das war mitten im ersten Corona-Lockdown.“

Krankenhausaufenthalt, der Besuch von Fachärzten, erste therapeutische Maßnahmen, eine humangenetische Untersuchung folgten. „Die Zeit der Ungewissheit war schlimm“, sagt Silke heute. „Die hätte ich uns gerne erspart. Lieber hätten wir von Geburt an gewusst, was los ist.“

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Eigene Recherchen hatten sie schon das Kleefstra-Syndrom vermuten lassen, kurz vor Merles zweitem Geburtstag wurde daraus Gewissheit. Das Syndrom bezeichnet einen sehr seltenen Gendefekt, bei Merle durch Punktmutation. Bei dem Mädchen geht dies zum einen einher mit Muskelhypotonie, also einem Mangel an Muskelstärke und Muskelspannung. „Das ist ein Merkmal, das viel nach sich zieht“, sagt Silke. So hat es Auswirkungen auf die Grobmotorik, also auf die Entwicklungsschritte Krabbeln, Laufen, Klettern. Zum anderen bedingt das Syndrom eine allgemeine Entwicklungsverzögerung.

Unbeschwerte Familienzeit im Garten für Merle, ihren großen Bruder und ihre Eltern Silke und Philipp.
Unbeschwerte Familienzeit im Garten für Merle, ihren großen Bruder und ihre Eltern Silke und Philipp. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

„Etwa die Hälfte der betroffenen Kinder lernt nie zu sprechen“, berichtet die Bottroperin. Merle aber spricht seit über einem Jahr. „Mittlerweile sind wir bei Dreiwortsätzen.“ Man spürt die Erleichterung der 39-Jährigen. „Das war meine größte Sorge, dass die Sprache nicht kommt.“ Sich mitteilen zu können, lässt auch Merle zufriedener sein.

Merle macht große Entwicklungsfortschritte

Der erste Aufruhr und die Sorge um Merles Gesundheit hatten sich schon kurz vor der Diagnose gelegt, denn das Mädchen machte schon damals, auch dank erster Therapien, große Entwicklungsfortschritte. So konnte sie schließlich mit zweieinviertel Jahren laufen. „Sie hat einen unglaublich starken Willen“, sagt ihre Mutter. „Das macht es zwar im Alltag manchmal etwas schwieriger – jedenfalls für uns Eltern. Aber weil sie etwas schaffen will, schafft sie es auch.“ Wobei es helfe, dass sie sich bei ihrem älteren Bruder vieles abschauen könne.

Merles Förderung prägt den Familienalltag. Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Frühförderung, Reittherapie… Fünf Therapie-Termine hat sie in der Woche, teils noch vor der Regel-Kita, die sie im evangelischen Martinszentrum besucht. Dazu kommt zweimal im Jahr eine Intensivtherapie im Schwarzwald – und das Üben daheim. „Lange Zeit fühlte ich mich halb als Therapeutin. Inzwischen bin ich entspannter geworden, denn es läuft auch so. Ich kann wieder mehr Mama sein, nicht Therapeutin. Und zum Glück macht Merle auch alles super mit und mag ihre Therapeuten sehr gerne.“

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Ein weiterer Zeitfresser: Papierkram wie Antragstellungen bei der Krankenkasse. Den Eltern hilft in dieser herausfordernden Situation der Austausch über dieses „exotische Syndrom“ mit anderen betroffenen Familien. Zum Beispiel über Soziale Medien, manchmal auch persönlich.

Exklusivzeit mit den Eltern für den großen Bruder

Silke machte eine längere Elternzeit als geplant nach Merles Geburt und wechselte den Job, so dass ihr Weg zur Arbeit heute kürzer ist. Sie arbeitet in Teilzeit, Philipp voll. „Er übernimmt aber Zuhause trotzdem viel, abends und am Wochenende eben.“ Nachdem sich die Familie erstmal an den Gedanken Leben mit dem Kleefstra-Syndrom gewöhnt hatte, alles in die Wege geleitet war, „wurde das alles für uns zur neuen Normalität“.

Für den großen Bruder sowieso. „Er war zweieinhalb, als Merle geboren wurde.“ Klar gab es, gerade am Anfang, Zeiten, da musste er zurückstecken. „Oft bin ich mit beiden Kindern unterwegs. Dann bin ich darauf angewiesen, dass er gut mitmacht, was er auch tut.“ Weil Merle eben mehr Unterstützung braucht, auch mal schneller ungeduldig wird. „Wir haben aber von Anfang an versucht, das im Blick zu behalten, ihn genauso wahrzunehmen in seinen Bedürfnissen, ihn nicht zurückzustellen, ihm die Situation zu erklären.“ Er verfolgt seine Hobbys, trifft natürlich seine Freunde. Und: Es gibt Exklusivzeit mit den Eltern nur für ihn. Mittlerweile sind auch viele Dinge, wie zum Beispiel gemeinsame Familienausflüge, wieder gut machbar.

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Wenn man den beiden Geschwistern zusieht im Garten, erlebt man Unbeschwertheit, Harmonie, Ausgelassenheit. „Merle liebt ihren Bruder schon immer. Für ihn ist es manchmal nervig, weil sie oft an ihm dran klebt. Eben wie bei anderen Geschwistern auch“, meint die Mama lächelnd. Doch gerade draußen, so wie jetzt, können sie toll zusammen spielen. Wenn sie an die Zukunft denken, machen sich die Eltern schon ab und zu Gedanken. Wie selbstständig wird Merle einmal leben können? Wie viel Verantwortung wird ihr Bruder übernehmen? Eins steht fest: Die Bande dieser Familie sind spürbar stark.

Ihre Me-Time findet Silke in der politischen Arbeit. „Politik ist mein Herzensding.“ Für die CDU setzt sie sich auf kommunaler Ebene – natürlich, möchte man sagen – für die Inklusion ein. „Noch ist das ein leider Nischenthema. Es wird zwar immer mehr darauf aufmerksam gemacht, trotzdem sehe ich noch viel Luft nach oben. Inklusion wird oft nicht mitgedacht.“ Sie findet es schade, „dass dem Gefühl nach Kinder und Erwachsene mit Behinderungen in Deutschland nicht sehr sichtbar sind“.

Die Geschwister machen gerne Quatsch miteinander, erzählen die Eltern. Und könnten glücklicher darüber nicht sein.
Die Geschwister machen gerne Quatsch miteinander, erzählen die Eltern. Und könnten glücklicher darüber nicht sein. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Silke wünscht sich zum Beispiel – wohlwissend um die aktuelle Lage und die Schwierigkeiten – ein so gut ausgestaltetes Schulsystem, dass Familien wirklich die Wahl haben zwischen (inklusiver) Regel-und Förderschule. „Ich sehe, was Merle lernt durch die anderen Kinder in der Regel-Kita. Und für die anderen Kinder wiederum ist es wichtig, Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag zu erleben. Doch in unserem System hört das leider oft spätestens nach der Kita auf, so gut zu funktionieren.“

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Insgesamt müsse die Gesellschaft inklusiver werden. „In Sportvereinen sollten Kinder mit Behinderung selbstverständlich dabei sein können, wo immer es geht.“ Merle hat sie zum Beispiel genauso mit zum Kinderturnen genommen wie deren großen Bruder. „Da war die Behinderung gar kein Thema.“ Spielplätze sollten auch für motorische eingeschränkte Kinder ausgelegt sein, regt die erfahrene Mutter an. Wer gar nicht oder nicht sicher gehen kann, kommt etwa mit sandigem Untergrund nicht zurecht. „Kommunikationstafeln würden nonverbalen Kindern helfen, sich mit anderen Personen verständigen zu können.“ Oder das Thema WC im öffentlichen Raum. Wo nur könne man größere Kinder versorgen, die noch gewickelt werden müssen?

Trotz all dieser Gedanken und Herausforderungen findet Silke unterm Strich: „Unser Alltag ist nicht so anders als bei anderen. Unser Leben ist für uns mittlerweile ganz normal.“

So leben Familien in Bottrop

Familie gleich Vater – Mutter – gemeinsames Kind? Ja, das kann so sein. Ist aber im Jahr 2023 nur eine Familien-Variante von vielen. Es gibt die Alleinerziehenden, die Patchwork-Familien, die Kleinst- und die Großfamilien, Pflege- oder Adoptivfamilien, Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren und sicher noch einige Modelle mehr.

Nicht zu vergessen die Familien mit besonderen Herausforderungen durch ein behindertes Kind etwa oder pflegebedürftige Angehörige.

Wie leben Familien in Bottrop? Wie sieht ihr Alltag aus, wo stehen sie vor Herausforderungen, was wünschen sie sich von Politik und Gesellschaft, von Kita, Schule und Stadt? Das möchten wir in einer Serie vorstellen.

Dazu suchen wir auch noch weitere Familien, die ihre Geschichten erzählen. Melden Sie sich per E-Mail unter nina.stratmann@funkemedien.de. Wir sind gespannt!