Bottrop. Viele weitere Opfer des Apothekerskandals können Entschädigungen aus dem Hilfsfonds des Landes bekommen. Das Verfahren hat aber einen Haken.

Im Bottroper Apothekerskandal ist NRW-Gesundheitsminister Karl-Dieter Laumann scharf dafür kritisiert worden, dass er zwar einen Zehn-Millionen-Euro-Hilfsfonds für die Opfer eingerichtet hat, die Zahl der Empfänger aber beschränkt hat. Nur die Opfer und ihre Angehörigen hatten Anspruch, deren Fälle das Landgericht Essen zur Grundlage gemacht hat für das Urteil: Zwölf Jahre Haft für Ex-Apotheker Peter Stadtmann.

Der Landtag hat inzwischen beschlossen, den Kreis der Anspruchsberechtigten auszuweiten. Das Ministerium hat verkündet: Ab sofort können „alle Personen, die zwischen 2001 und 2016 nachweislich in der Alten Apotheke in Bottrop individuell hergestellte Krebsmedikamente erhalten haben, eine einmalige Zahlung beantragen. Dies gilt auch für Kinder und Ehegatten sowie Lebenspartnerinnen und Lebenspartner von verstorbenen Betroffenen.“ Der Haken liegt versteckt im Wort „nachweislich“. Denn dieser Nachweis ist oft nicht mehr zu führen. Ein Fallbeispiel.

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Opfer des Bottroper Apothekerskandals: Peter Stadtmann brauchte selbst die Infusion vorbei

Nennen wir sie Lisa M. Es gibt noch zu viele Angehörige, deren seelische Wunden wieder aufgerissen würden, läsen sie den richtigen Namen. Lisa M. ist 71, rüstig, fit und geht regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen. Bei einer wird festgestellt: Da ist ein Geschwür im Magen. Weitere Untersuchungen ergeben: Es ist ein bösartiger Tumor. Im Knappschaftskrankenhaus beginnt eine Chemotherapie. Sie schlägt zunächst gut an, Lisa M. darf nach Hause. Es ist Weihnachten 2005.

Im Onkologiezentrum an der Neustraße wird die Chemotherapie fortgesetzt, die Medikamente kommen aus der Alten Apotheke. „Sie hat uns berichtet, dass Peter Stadtmann die Infusionen manchmal selbst vorbeigebracht hat“, sagt ihre Tochter. Im April bekommt Lisa M. die typische Nebenwirkung Haarausfall. „Sie hat sich eine Perücke gekauft“, erinnert sich die Tochter. „Stand ihr echt gut.“ Soweit also alles gut? Von wegen.

Bottroper Opfer geht es rapide schlechter – 71-Jährige stirbt

Im Mai 2006 geht es Lisa M. rapide schlechter. Sie beginnt, wirr zu reden, fällt dann ins Koma. Eine Woche kämpfen die Ärzte um ihr Leben, dann stirbt Lisa M., ohne das Bewusstsein wieder zu erlangen. „Sie ist keine 72 Jahre alt geworden“, sagt die Tochter.

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Mehr als zehn Jahre später, im November 2016, wird Peter Stadtmann verhaftet wegen des dringenden Verdachts, tausenden Patienten verdünnte und wirkungslose Krebsmedikamente gemischt zu haben, die Wirkstoffe aber in voller Höhe bei den Kassen abgerechnet zu haben. Seit der Gesundheitsminister gemeldet hat, auch Fälle ab 2001 könnten betroffen sein, ist die Tochter von Lisa M. überzeugt: Auch die Infusionen für ihre Mutter hatte der Apotheker gestreckt. „Sonst hätte der Krebs doch nie so schnell streuen und zum Tode führen können.“

Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) bei einem Treffen mit Opfern des Bottroper Apotheker-Skandals. Sie forderten von ihm, den Kreis der Anspruchsberechtigten auf staatliche Entschädigung zu erweitern. Das ist jetzt passiert.
Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) bei einem Treffen mit Opfern des Bottroper Apotheker-Skandals. Sie forderten von ihm, den Kreis der Anspruchsberechtigten auf staatliche Entschädigung zu erweitern. Das ist jetzt passiert. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Beweissuche in Bottrop bleibt ohne Ergebnis

Als Minister Laumann verkündet, alle Patienten von 2001 bis zu Stadtmanns Verhaftung 2016 könnten Entschädigungszahlungen bekommen, begibt sich die Tochter auf Beweissuche. Zunächst im eigenen Haus. Doch von diesen Unterlagen hat sich die Familie unter Schmerzen getrennt: Rezepte und Verschreibungen sind keine schönen Erinnerungen an eine geliebte Verstorbene.

Also fragt die Tochter bei der Krankenkasse nach. Die kümmert sich sofort, kann aber nicht helfen: Die Aufbewahrungsfrist für Rezepte und Abrechnungen endet nach zehn Jahren. Der Mann von der Kasse zückt mitfühlend die Schultern: „Nichts ist mehr da.“ Bedauern auch bei der Hausarztpraxis: Die Unterlagen haben wir weiter gegeben an die onkologische Praxis. Und die onkologische Praxis? Gibt es nicht mehr.

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Von Linda Heinrichkeit und Kai Süselbeck

Bottroperin kann Nachweis über Behandlung nicht erbringen

Die Tochter kann also nicht den geforderten Nachweis für die Behandlung durch Peter Stadtmann liefern. Und doch will sie unbedingt, dass Lisa M. als Opfer des Apothekerskandals anerkannt wird. Dass ihr Name nachgetragen wird auf der Liste mit den mehr als 4000 Namen von Opfern, die auf Mahnwachen durch die Bottroper Innenstadt getragen wurde. „Das Geld ist mir egal. Das werde ich dem Hospiz spenden. Aber es muss doch ganz viele Fälle nicht nur in Bottrop geben, in denen die Angehörigen wollen, dass ihre Verstorbenen zu den Opfern gezählt werden. Dafür muss es doch eine Lösung geben.“

Gibt es eine Lösung? Das fragen wir das Gesundheitsministerium. Ja, in den allermeisten Fällen, sagt Ministeriumssprecher Carsten Duyf. Der ganz einfache Fall: Wenn die Namen der Opfer im Stadtmann-Urteil auftauchen, müssen sie oder die Angehörigen nur ein Formular ausfüllen und eine Ausweiskopie mitschicken. Überhaupt nichts tun müssen Menschen, deren Entschädigungsantrag im ersten Anlauf abgelehnt worden waren, sagt Duyf: „Ihre Anträge werden erneut geprüft und sie werden durch das Ministerium kontaktiert.“

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„Ministerium wird alle Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen“

Viele Menschen aus dem erweiterten Kreis der Anspruchsberechtigten hätten schon Anträge eingereicht und auch Belege mitgeschickt, sagt Duyf. Deshalb geht das Ministerium davon aus, „dass viele ihre Unterlagen noch haben“.

Und wenn nicht, wie im Fall von Lisa M.? „Dann ist es für die Betroffenen unter Umständen natürlich sehr herausfordernd, noch Unterlagen von den am Behandlungsprozess beteiligten Stellen zu bekommen“, sagt Duyf. Er macht aber deutlich: Das Ministerium wird den Hinterblieben so weit entgegenkommen wie irgend möglich: „Das Ministerium wird im Sinne der Betroffenen alle Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen, die geeignet sind, eine staatliche Entschädigungszahlung zu rechtfertigen.“