Bottrop. In Bottrop sind die Besatzer vor 100 Jahren besonders heftig vorgegangen, so der französische Historiker Dr. Benjamin Volf. Ein Polizist stirbt.

Ein Busfahrschein wird im Januar zehn Cent teurer. Darüber würden Leute, die vor 100 Jahren die Hyperinflation erlebten, heute nur lächeln. Solche Alltagsdinge kosten damals normalerweise Pfennige, dann Millionen, kurz darauf Milliarden, am Ende sogar Billionen. Im Wochen- dann im Tagesrhythmus wird einfach eine Null drangehängt.

Vor allem die Mittelschichten, also die, die überhaupt etwas aufs Konto bringen konnten, verarmen. Geld ist nichts mehr wert. Ebenfalls 1923, knapp fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, erlebt die Bevölkerung wieder Kriegszustände – zumindest im Ruhrgebiet, dem Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet, wie es damals heißt.

Der französische Historiker Dr. Benjamin Volf forscht mit Hilfe von Stadtarchivarin Heike Biskup über die Ereignisse der Ruhrbesetzung in Bottrop vor 100 Jahren.
Der französische Historiker Dr. Benjamin Volf forscht mit Hilfe von Stadtarchivarin Heike Biskup über die Ereignisse der Ruhrbesetzung in Bottrop vor 100 Jahren. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Am 11. Januar 1923 marschieren französische Truppen ein. Auch in Bottrop, der Kohlestadt mit zahlreichen Bergwerken. Hintergrund: Die Sieger von 1918 fordern Reparationen für erlittene Kriegsschäden. Im Friedensvertrag von Versailles war das festgelegt worden, Deutschland hatte zugestimmt, was prompt innenpolitische Kontroversen hochkochen lässt. Diese Gelder und Güter – darunter natürlich Kohle – fließen nicht ausreichend, wie die Alliierten befinden. Also geht man dorthin, wo man das Geforderte holen kann.

1923: Erst Quartiere für 800 Franzosen dann für 2000 belgische Soldaten gefordert

Die Franzosen kommen. Das hat man gut 100 Jahre zuvor schon einmal erlebt, damals unter Napoleon. Am 11. Januar werden die Gerüchte über herannahende Truppen aus Sterkrade rasch bestätigt. Gegen 9.30 Uhr besetzen die ersten Franzosen das Gasthaus Tenbrink an der Osterfelder Straße. Im Rathaus fordern Offiziere Quartier für 800 Soldaten ein. Man weiß, was man will: die Agathaschule an der Paßstraße, die Schule auf der Bette, die Glückaufschule an der Prosperstraße. Dazu Quartiere für 40 Offiziere in Privathäusern, Platz (und Futter) für Pferde und Gerät.

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Vier Tage später rücken die Franzosen ab. Dafür kommen über 2000 Belgier. Privatbesitz wird beschlagnahmt, Lebensmittel im ohnehin zu großen Teilen mangelernährten Bottrop eingefordert. Was nicht gegeben wird, wird einfach genommen, Plünderungen sind an der Tagesordnung. Vieles ist aus Aufzeichnungen, Zeitungen, vor allem aber aus Akten und den Tagesaufzeichnungen der Stadtverwaltung zu recherchieren, wie Stadtarchivarin Heike Biskup bestens weiß.

Französischer Historiker arbeitet auch für Ausstellung im Ruhrmuseum

Anderes, auch bisher Unbekanntes, besonders auch über die Besetzung Bottrops, recherchierte der französische Historiker Dr. Benjamin Volf. Er arbeitet im Zusammenhang mit der großen historischen Ausstellung des Ruhrmuseums zu diesen Ereignissen, dann aber auch mit Bottroper Schwerpunkt für seinen Vortrag am 9. Januar im Filmforum.

Ob es sich bei diesem belgischen Offizier um Oberst Torrekens, 1923 Kommandant von Bottrop, handelt, konnte Historiker Benjamin Volf noch nicht mit letzter Sicherheit herausfinden.
Ob es sich bei diesem belgischen Offizier um Oberst Torrekens, 1923 Kommandant von Bottrop, handelt, konnte Historiker Benjamin Volf noch nicht mit letzter Sicherheit herausfinden. © Stadtarchiv

Volf recherchiert dafür auch in französischen und belgischen Militärarchiven, möchte mehr Fakten oder auch Namen herausfinden, zum Beispiel, ob das im Stadtarchiv vorhandene Bild eines Obersten wirklich den belgischen Kommandanten Bottrops dieser Tage zeigt, Oberst Torrekens. „Der hat übrigens einen Bericht aus der belgischen Zeitung „Le Peuple“ widerlegt, in dem von Mangelernährung der Soldaten speziell in Bottrop die Rede ist“, so Volf. Er kennt auch manche erhaltene Korrespondenz belgischer Soldaten aus Bottrop, die „sehr neutral“ gehalten ist, was offensichtlich auf „die belgische Zensur zurückzuführen ist“.

Beerdigung eines Polizisten wird zu Großdemonstration

Zwar hat es in Bottrop keine Ereignisse wie den „Blutsamstag“ in Essen oder die Dortmunder „Bartholomäusnacht“ mit zahlreichen Toten gegeben. In Bottrop aber sei, laut Benjamin Volf, die Gewalt gegen die Bevölkerung insgesamt wohlgrößer gewesen als in anderen Revierstädten. Insgesamt 96 Fälle habe es gegeben, bei denen sich Besatzer an einfachen Bottroperinnen und Bottropern vergriffen hätten, oft so heftig, dass sie um ihr Leben kämpfen mussten.

Getötet wird der Polizist Johann Przybilla, als er am 31. Mai nachts aus der Wirtschaft Landscheidt kommt. Er wird nach Waffen durchsucht, dann mit Schläuchen niedergeschlagen. Als er in eine nahe Waschküche flieht, wird er von Soldaten ohne ersichtlichen Grund erschossen. Seine Beerdigung am 5. Juni 1923 wird zu einer Großdemonstration gegen Besetzung und Besatzer, an der über 10.000 Menschen teilnehmen. Auch Oberbürgermeister Dr. Baur wird ebenso inhaftiert wie Mitglieder der Stadtverwaltung und dann aus der Stadt gewiesen, weil Baur – ganz im Sinne der Berliner Reichsregierung – nicht mit den Besatzern kooperierte.

Das Foto zeigt einen Teil der gut 10.000  Menschen, die am 5. Juni 1923 zur Trauerkundgebung für den getöteten Polizisten Johann Przybilla durch die Stadt auf den Westfriedhof gezogen sind.
Das Foto zeigt einen Teil der gut 10.000 Menschen, die am 5. Juni 1923 zur Trauerkundgebung für den getöteten Polizisten Johann Przybilla durch die Stadt auf den Westfriedhof gezogen sind. © Stadtarchiv

Alltag in Bottrop wird immer chaotischer

Der Alltag in der Stadt wird immer chaotischer. Die wirtschaftliche Not verstärkt sich. Abtransportiert wird nicht nur Kohle. Auch Geld aus den Banken, das Anfang 1923 noch Wert hat, Autos oder Maschinen werden abtransportiert. Bei Plünderungen werden Holz oder Möbel fortgeschafft, die Besatzer erheben eigene Steuern. Unterricht ist in den besetzten Schulen natürlich nicht möglich. Es gibt Sabotageakte der Einwohnerschaft, Mitglieder der Stadtverwaltung werden inhaftiert.

Zeitgenössisches Bild von der nach Abzug der Belgier zerstörten Agathaschule an der Paßstraße.
Zeitgenössisches Bild von der nach Abzug der Belgier zerstörten Agathaschule an der Paßstraße. © Stadtarchiv

„Dazu kommen Kämpfe der zwischen den deutschen politischen Lagern“, sagt Benjamin Volf. Gerade Linke, die Kommunisten, nutzt die Besatzungssituation, um gegen die Reichsregierung zu hetzen. Linke Paramilitärs hätten auch hier gerne einen Aufstand wie in Hamburg oder dem „deutschen Oktober“ in Sachsen oder Thüringen angezettelt. Diese linken Truppen seien zum Teil auch von den Belgiern in Schach gehalten worden, so Volf.

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Erst Ende August 1925 endet die Ruhrbesetzung. Von Oberbürgermeister Baur sind die Worte überliefert: „Diese Last sind wir los.“ Was bleibt, sind verwüstete Schulen, katastrophale Lebensumstände, eine miserable Wirtschaftslage und neuer Hass gegen die Sieger des Weltkrieges durch eine Bevölkerung, die „bis dahin nie eine Besatzung erlebt hat“, wie Benjamin Volf sagt. Vieles aus diesen Jahren sei gerade in Bottrop noch unerforscht, so der Historiker. „Diese Geschichte ist immer noch wie ein spannendes Puzzle.“

Der Vortrag – ein Buch

Der Vortag „Wir sind keine Sklaven – Die Besetzung der Stadt Bottrop durch französische und belgische Truppen 1923 - 1925“ von Dr. Benjamin Volf beginnt am Montag, 9. Januar, um 18 Uhr im Filmforum an der Blumenstraße 12-14.

Das Buch „Ruhrbesetzung 1923 – Ein Jahr spricht für sich“, herausgegeben von Werner Boschmann, ist erschienen im Verlag Henselowsky Boschmann, 208 Seiten, 59 Abbildungen, 19,80 Euro.