Essen. Werner Boschmann erinnert in einem lesenswerten Buch an die Ereignisse der Ruhrbesetzung, Jutta Hoffritz schildert 1923 aus Promiperspektiven.

Die frühen 1920er-Jahre, sie sind eine bittere Zeit im Deutschen Reich. Die alte Ordnung, vieles Vertraute, löste sich auf. Noch nicht verheilt sind die Wunden des verlorenen Weltkriegs, er hat zahllose Opfer gefordert und das Land ausgezehrt. Es leidet unter immensen, schier unerfüllbaren Reparationsforderungen, welche die Siegermächte dem Reich auferlegt haben.

Mit der Flucht des Kaisers erlosch die Monarchie. Ihr folgte die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden, doch zur Ruhe kam sie nicht: Revolutionäre Unruhen erschütterten die Städte auch an Rhein und Ruhr, als sowohl rechtsradikale Nationalisten wie auch linksextreme Kommunisten versuchten, die Herrschaft im Land an sich reißen. Mit Militär und aller Härte schlug die junge Republik die Aufstände nieder.

Wohnungsnot und Armut belasten die Menschen im Revier

Wohnungsnot und oft Armut belasten die Arbeiterfamilien im Revier – und es steht neues Unheil bevor. Als sei alles noch nicht genug, wird jetzt eine Hyperinflation zu Wahnsinn, zig Milliarden Mark kostet ein Kilo Brot. Das Jahr 1923, es wird rabenschwarz.

Am 11. Januar marschieren schwer bewaffnete französische und belgische Soldaten ins Revier ein, um Forderungen nach Kriegsentschädigungen durchzusetzen, die Deutschland angeblich nicht genug leistet. Sie besetzen Rathäuser, vor allem die Zechen, denn Frankreich hat es auf Kohlelieferungen abgesehen. Die Reichsregierung ermutigt die Menschen der Region, die schnell wuchs und „Rheinisch-Westfälisches Industriegebiet“ hieß, zum passiven Widerstand.

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In diese verstörende Zeit taucht das neue Buch „Ruhrbesetzung 1923 – Ein Jahr spricht für sich“ des Bottroper Verlegers Werner Boschmann tief ein. Nicht akademisch analysierend, nicht wie auch immer politisch belehrend – es holt anhand zeitgenössischer Schilderungen, Dokumente und Zeugenberichte aus Broschüren oder Gerichtsurteilen das dramatische damalige Geschehen gewissermaßen 1:1 in die Gegenwart. Plastisch, vor allem authentisch ist das Bild, das auf diese Weise von der Situation in den Städten und dem Handeln der Revierbürger, der „kleinen Leute“, während der Besetzung entsteht.

Die Auswahl der Beiträge ist exemplarisch, sie geht auf die Wirren, doch auch auf besonders beklemmende Ereignisse im Krisenjahr ein. Zu jener Zeit liegt das Ende des verheerenden Kriegs schon fünf Jahre zurück, aber das martialische Auftreten der ins Ruhrgebiet eindringenden Truppen mutet wie ein Kriegszustand an. Panzer sichern die Besetzung von Schachtanlagen und den Abtransport der Kohle nach Frankreich; Ausgangssperren schränken die persönliche Freiheit der Bevölkerung ein, rigoros werden Unterkünfte für zigtausende Besatzungssoldaten „requiriert“.

Elf erschossene Krupp-Arbeiter

Das eine oder andere Geschehen mag den um 1950, 1960 Geborenen noch von Erzählungen der Großeltern, die jenes Jahr miterlebten, in Erinnerung sein, denn unendlich weit liegt 1923 nun doch nicht zurück. Das Buch hält solche Erinnerungen wach. Zum Beispiel an die Schmäh-Kritzeleien an Hauswänden, um die Besatzer zu verhöhnen, an Sabotageakte von Eisenbahnern, an den mutigen Widerstand der Bergleute, die sich trotz aller Drohungen weigerten, für die Alliierten Kohle zu fördern. Oder an den „Blutsamstag“ von Essen, an dem ein Militärkommando elf protestierende Krupp-Arbeiter erschoss. An die „Bartholomäus-Nacht“ von Dortmund, in der unbekannte Täter zwei französische Feldwebel ermordeten, worauf die Besatzer auf Passanten feuerten und sieben tödlich verletzten.

Ein wenig mehr über den Alltag der Menschen, die unter den Bedingungen von Belagerung und Mega-Inflation ihr Leben zu meistern hatten, hätte durchaus gepasst. Doch auch so scheint in den Beiträgen deren Durchhaltekraft in jenen schwierigen Tagen auf. Eine Vielzahl von sehr gut reproduzierten Ansichtskarten zeigt, wie es 1923 in den Orten und Städten des Ruhrgebiets aussah. Es sind Bilder der Ruhe, Beschaulichkeit und des Friedens. Welch ein Kontrast.

Ruhrbesetzung 1923 – Ein Jahr spricht für sich, hg. von Werner Boschmann. Verlag Henselowsky Boschmann, 208 Seiten, 56 Abb., 19,80 Euro.


>>> Jutta Hoffritz erzählt in „Totentanz“ das Jahr 1923 aus Promi-Perspektiven <<<

Da ist Kurt Tucholsky, der das Schreiben aufgibt und eine Banklehre anfängt. Da ist der geschäftstüchtige Hugo Stinnes, der zu den wenigen Profiteuren des Jahres 1923 und der Ruhrbesetzung durch Franzosen und Belgier gehört. Da ist Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, der sich von Stinnes erpresst und betrogen fühlt. Da ist die berüchtigte Nackttänzerin Anita Berber, die in diesem Jahr ihren Durchbruch erlebt, samt Auftrittsverbot in Wien.

Und da ist Käthe Kollwitz, die unter der Affäre ihres Mannes mit einer Sprechstundenhilfe leidet, viel mehr aber immer noch unter dem Tod ihres jüngeren Sohns Peter in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs. Sie wird sich in diesem Jahr zu ihrem legendären Plakatentwurf „Nie wieder Krieg!“ durcharbeiten.

Jutta Hoffritz, in Hamburg lebende Historikerin der Geldpolitik, hat bereits von ihrer Großmutter aus dem Ruhrgebiet die Schrecken der rasenden Inflation und des Hungers erzählt bekommen. Dieses authentische Hintergrundwissen macht ihre Präsens-Schilderungen des Jahres aus Promi-Perspektive im Telegrammstil (ein Satz ist oft ein Absatz) ziemlich farbig. Ein Panorama dieses Jahres wird daraus nicht, aber die Zusammenhänge der Geldpolitik, ihre Profiteure und Opfer werden hinlänglich deutlich. Und unterhaltsam ist das ohnehin.

Jutta Hoffritz: Totentanz – 1923 und seine Folgen. HarperCollins Verlag, 272 S., 23 €.