Bottrop. Ein Einsatz zwischen Leben und Tod: Drei ehrenamtliche Feuerwehrleute berichten von ihren dramatischen Erlebnissen aus Swisttal im Juli 2021.

Etwas mehr als ein Jahr liegt die Flutkatastrophe zurück. 130 Einsatzkräfte der Bottroper Feuerwehr sind nun als Zeichen der Anerkennung mit der Fluthelfermedaille des Landes NRW ausgezeichnet worden. Diese zwei Tage im Juli 2021 werden sie nie vergessen.

Ihre Augen haben apokalyptische Zustände gesehen. Es sind Erinnerungen und Erlebnisse, die sich tief ihr Gedächtnis gebrannt haben. „Es gibt Einsätze, die vergisst man nicht“, sagt Martin Hemming von der Freiwilligen Feuerwehr aus Feldhausen. Am Mittwoch, 14. Juli 2021, zeigt die Natur ihre hässliche Seite.

Von links: Thomas Schlagkamp (Brandinspektor), Niklas Marschewski (Oberfeuerwehrmann) und Martin Hemming (Brandmeister). Alle engagieren sich bei der Freiwilligen Feuerwehr in Feldhausen und berichten über ihre Erlebnisse bei der Flutkatastrophe in Swisstal.
Von links: Thomas Schlagkamp (Brandinspektor), Niklas Marschewski (Oberfeuerwehrmann) und Martin Hemming (Brandmeister). Alle engagieren sich bei der Freiwilligen Feuerwehr in Feldhausen und berichten über ihre Erlebnisse bei der Flutkatastrophe in Swisstal. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Kurz vor 20 Uhr werden die Zugführer alarmiert. Dass es im Rhein-Sieg-Kreis ein Einsatz auf Leben und Tod werden wird, ahnen die Feuerwehrleute damals noch nicht. Die Rede ist in dieser Zeit „nur“ von einem schweren Unwetter. „Für mich war klar, dass wir zum Keller leerpumpen da hinfahren“, erinnert sich Thorsten Schlagkamp, Ortswehrführer aus Feldhausen.

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Nicht das Leerpumpen von Kellern, sondern Menschenrettung erwartet die Bottroper

An der Feuerwehrwache an der Hans-Sachs-Straße sammeln sich die Einsatzkräfte. Gegen Mitternacht macht sich der erste Konvoi auf den Weg. Das Ziel ist Swisttal, knapp zehn Kilometer von Euskirchen entfernt, im Rhein-Sieg-Kreis. Thorsten Schlagkamp und auch Niklas Marschewski sind mit an Bord. Wie Hemming engagieren sie sich ehrenamtlich für die Bottroper Feuerwehr.

Die Feuerwehr Bottrop hielt die spektakulären Bilder im Katastrophengebiet „Swisstal-Odendorf“ im Juli 2021 mit der Fotokamera fest.
Die Feuerwehr Bottrop hielt die spektakulären Bilder im Katastrophengebiet „Swisstal-Odendorf“ im Juli 2021 mit der Fotokamera fest. © Feuerwehr Bottrop

Normalerweise hätten sie Feierabend, würden im Bett liegen, schlafen und am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen. Stattdessen geht es für sie mit anderen Gleichgesinnten ins Krisengebiet. An Schlaf ist während der mehr als zweistündigen Fahrt nicht zu denken. Zu viele Dinge gehen ihnen durch den Kopf. „Der Adrenalinspiegel ist hoch. Man weiß nicht, was einen erwartet“, sagt Schlagkamp.

Als sie in Swisttal ankommen, erleben sie eine böse Überraschung. Schlagkamp: „Unsere Aufgabe war nicht das Leerpumpen von Kellern, sondern Menschenrettung.“ Die drei Feuerwehrleute erinnern sich an die chaotischen Zustände vor Ort, als wäre es erst gestern gewesen. Die Mannschaft wartete auf einen konkreten Einsatz. Das Problem: Man konnte keinen Kontakt zur Führungsstelle herstellen. „Kein Telefon, kein Internet, kein Funk“, fasst Schlagkamp die Situation zusammen. Die Telekommunikation war überlastet oder zusammengebrochen. Es gab auch keinen Kontakt zur Heimat in Bottrop.

Land unter: Ganze Straßenzüge in Swisstal im Rhein-Sieg-Kreis sind von den Wassermassen überflutet worden.
Land unter: Ganze Straßenzüge in Swisstal im Rhein-Sieg-Kreis sind von den Wassermassen überflutet worden. © Feuerwehr Bottrop

Feuerwehr-Sprecher Michael Duckheim erinnert sich: „Wir haben von hier aus lange versucht, jemanden vor Ort zu erreichen. Man wusste nichts. Ist die Mannschaft überhaupt angekommen? Und wenn ja, wo? Oder stecken sie irgendwo fest, weil sie mit den Fahrzeugen nicht weiterkommen?“ Straßen und Brücken sind zerstört. Häuser sind unterspült, einsturzgefährdet, Autos aufeinander geschoben.

Das Gelernte half nicht weiter – Improvisation war gefragt

Irgendwann kommt ein Einsatzbefehl durch. Bottrops Feuerwehr soll nach Odendorf, eine Ortschaft von Swisttal. Für die elf Kilometer benötigen sie mehr als eine Stunde. An einer Stelle muss eine Panzereskorte der Bundeswehr den Weg freiräumen. Unterwegs treffen sie eine Frau der örtlichen Feuerwehr, die ihnen bei der Orientierung hilft.

130 Feuerwehr- und Rettungskräfte aus Bottrop sind mit der Fluthelfermedaille des Landes NRW ausgezeichnet worden.
130 Feuerwehr- und Rettungskräfte aus Bottrop sind mit der Fluthelfermedaille des Landes NRW ausgezeichnet worden. © Feuerwehr Bottrop

Inzwischen ist der Morgen angebrochen. Das Ausmaß der Katastrophe wird sichtbar. Der kleine Orbach in Odendorf ist zu einem reißenden Fluss geworden. Alles, was sie jemals in der Ausbildung bei der Feuerwehr gelernt haben, nützt ihnen nichts. „Wir mussten nur improvisieren“, sagt Thorsten Schlagkamp. Noch immer sind Funk, Internet und Telefon gestört. Abhilfe bringt - Gott sei Dank - die analoge Welt. Schlagkamp weiß es nicht mehr so genau, „aber irgendjemand hatte eine Straßenkarte organisiert“, so wie es sie handelsüblich in Touristenbüros gibt. Mit einem Kugelschreiber wird die Karte auf einem Zettel abgemalt oder mit dem Smartphone abfotografiert - zur groben Orientierung. Straßenschilder und Ortsschilder wurden von den Wassermassen weggespült.

Der Erste Beigeordnete Paul Ketzer (rechts) übergibt die Medaille an eine ehrenamtliche Einsatzkraft.
Der Erste Beigeordnete Paul Ketzer (rechts) übergibt die Medaille an eine ehrenamtliche Einsatzkraft. © Feuerwehr Bottrop

Aus Planen wurden Boote gebaut, um Leute aus ihren Häusern zu retten. Manche sitzen seit Stunden auf den Dächern oder in den Bäumen. Außerdem sind Heizöltanks in Mitleidenschaft gezogen worden. „Das Dorf hat nach Diesel gestunken“, sagt Martin Hemming. Schlagkamp ergänzt: „Und es hat etliche Gaslecks gegeben.“ Niklas Marschewski: „Der gesunde Menschenverstand spielte eine große Rolle, dass man sich nicht selbst gefährdet, aber trotzdem den Leuten hilft.“

„Fernsehbilder sagen nicht mal ansatzweise das aus, was wir gesehen haben“

Am nächsten Tag folgt der zweite Konvoi nach Swisttal. Mit Martin Hemming. „Die Fernsehbilder sagen nicht mal ansatzweise das aus, was wir gesehen haben“, sagt er. Feuerwehrleute aller Bottroper Ortswehren sind im Einsatz. 48 Stunden arbeiten sie zusammen, oft eng beieinander. Ein Haufen unterschiedlicher Charaktere, alle übermüdet und trotzdem geben sie alles. Man ist füreinander da. „Solche Einsätze stärken ungemein die Kameradschaft“, findet Thorsten Schlagkamp.

Feuerwehr-Sprecher Michael Duckheim betont die Wichtigkeit dieses Engagements bei einem derartigen Katastrophenfall: „So etwas lässt sich nur mit ehrenamtlichen Einsatzkräften erledigen.“ 130 Rettungs- und Feuerwehrkräfte aus Bottrop, davon geschätzt 100 Ehrenamtler, sind mit der Fluthelfermedaille geehrt worden, gestiftet durch das NRW-Innenministerium. Martin Hemming spricht vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem Herzen. „Wir freuen uns darüber, aber für solche Einsätze sind wir Feuerwehrleute da“, sagt er bescheiden.