Bottrop. Die Diagnose Demenz wirft die Frage auf: Wie können Betroffene möglichst selbstbestimmt, aber gut versorgt leben. Besuch in einer Demenz-WG.

„Es ist schön zu sehen, wie alle wie in einer Großfamilie zusammenwachsen“, sagt Ella Hayakawa in den großzügigen Gemeinschaftsräumen der WG. Erst wird im Wohnbereich, für den die einzelnen Bewohner jeweils eigene Möbelstücke mitgebracht haben, „Laurentia“ gesungen. Und anschließend schnippelt, wer mag, in der offenen Küche fürs gemeinsame Essen mit. Reis mit Gyros und Salat soll es geben. WG-Leben, wie man es sich vorstellt. Nur, dass die acht Bewohnerinnen und Bewohner hier keine Studenten oder Lehrlinge sind – sondern Menschen mit einer Demenzerkrankung.

Demenz-WG in Bottrop: Mieter bringen Möbel und Geschirr selbst mit

Ella Hayakawa ist die Geschäftsführerin des betreuenden Pflegedienstes Vetter in den insgesamt drei Demenz-WG-Wohnungen, die Dennis Ludwig mit seiner Firma Alter-nativ Wohnen (ANW) in Bottrop an der Klosterstraße errichtet hat. Zum 1. März sind die ersten Mieterinnen und Mieter hier eingezogen; für jede bzw. jeden steht bei einer Wohnungsfläche von insgesamt jeweils 300 Quadratmetern ein rund 17 Quadratmeter großes Zimmer zur Verfügung. Jeweils zwei Bewohner teilen sich ein Bad. Die Ausstattung nicht nur der eigenen Räume stammt von daheim; so wird zum Beispiel auch das Geschirr von den Mietern mitgebracht. „Es hilft, wenn viele private Dinge vor Ort sind“, sagt Bauherr und Vermieter Dennis Ludwig.

Die Betreuerinnen regen zum gemeinsamen Singen an in der Demenz-WG an der Klosterstraße in Bottrop.
Die Betreuerinnen regen zum gemeinsamen Singen an in der Demenz-WG an der Klosterstraße in Bottrop. © Funke Foto Services | Jörg Schimmel

Beim Rundgang durch den ersten Stock ergreift eine sorgfältig gekleidete ältere Dame das Wort. „47 Jahre habe ich in der Konfektionsabteilung gearbeitet.“ Doch jetzt, mit 80, habe sie Demenz, klagt sie. Eine Tatsache, mit der sie ihren Frieden noch nicht gemacht zu haben scheint. Wohl aber mit der betreuten WG, in der sie jetzt lebt: „Hier bin ich so zufrieden!“

Konzept der Demenz-WG: Wie in einer Großfamilie den Alltag gestalten

Diese Zufriedenheit dürfte vor allem dem Konzept geschuldet sein, das in dieser Demenz-WG umgesetzt wird: „Es wird wie in einer großen Familie der Alltag gestaltet“, so Ella Hayakawa. Es gelte nicht das Satt-Sauber-Prinzip. „Ein großer Teil der Betreuung besteht in den Alltagshandlungen an sich.“ Da werde zum Beispiel die Spülmaschine ausgeräumt oder gemeinsam die Wäsche gefaltet. „Und wer nicht mitmachen kann, für den ist es trotzdem wichtig, dabei zu sitzen.“

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Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen das größtmögliche Mitbestimmungsrecht haben. Das gilt nicht nur für den Speiseplan. „In einer anderen, von uns betreuten reinen Damen-WG gibt es jeden Abend einen Eierlikör“, nennt Hayakawa ein Beispiel. Es gibt etwa auch keine gemeinsame Weckzeit. „Wer immer erst um zehn Uhr aufgestanden ist, der kann das auch hier tun.“ Das Hausrecht liege grundsätzlich allein bei den Bewohnern und Angehörigen. Die dürfen sich gerne mit einbringen. „Ein Angehörige hier ist Floristin, Sie will mit den Bewohnern Gestecke basteln.“

Drei Wohngemeinschaften liegen auf drei neu gebauten Etagen an der Klosterstraße in der Boy.
Drei Wohngemeinschaften liegen auf drei neu gebauten Etagen an der Klosterstraße in der Boy. © Funke Foto Services | Jörg Schimmel

Und: „Alles, was zu Hause geht, versuchen wir hier auch umzusetzen.“ Deshalb sind Besuche 24 Stunden am Tag möglich, Angehörige dürfen durchaus mal in den Zimmern mit übernachten, (Enkel-)Kinder und auch Haustiere sind stets willkommen. „So lange das für alle verträglich ist und keine Allergien bestehen“, schränkt die Pflege-Fachfrau ein. Aber das dürfte ja für jede WG so gelten.

Geraucht werden darf übrigens auch – in dieser WG auf dem großen, überdachten Gemeinschaftsbalkon.

24-Stunden-Betreuung und klassische Pflege gehören zum Angebot

Klar wird neben einer 24-Stunden-Betreuung auch klassische Pflege dort angeboten, wo sie gebraucht wird. Und sollten die Bewohner sich dabei einen anderen Pflegedienst als Vetter wünschen, dann ist das ganz allein ihre Entscheidung, betont Ella Hayakawa.

Gerngesehen ist auch die enge Nachbarschaft zur katholischen Kita in der Boy. Noch seien gemeinsame Aktivitäten zwar coronabedingt eingeschränkt. „Aber wir hatten schon Musikrunden über den Zaun hinweg“, erzählt Ella Hayakawa. „Es ist immer was los - und das ist eigentlich nur befruchtend“, findet Dennis Ludwig. Die WG liege nicht von ungefähr mitten im Quartier – nahe bei Kita, Kirche, Supermarkt, Boyer Wochenmarkt.

Ludwig hat sich aufgrund familiärer Erfahrungen auf das Bauen von Demenz-WGs spezialisiert. „Eigentlich komme ich aus der Medienbranche“, erzählt der Gladbecker. Dann sei sein Opa „mit Tempo 1000 in die Demenz gerauscht“. Die Unterbringung in einem klassischen Heim habe ihm damals gar nicht gut getan. „Nach sechs Wochen war er nur noch ein Schluck Wasser in der Kurve.“ So fing Dennis Ludwig vor über zehn Jahren an, sich mit alternativen Wohnformen zu beschäftigen.

Demenz-WG-Betreiber: „Der Bedarf ist groß“

„Der Bedarf ist wirklich groß“, sind sich Dennis Ludwig und Ella Hayakawa einig. Im neuen Bottroper Haus geht kaum noch was; in Voerde zum Beispiel stünden bei 24 Plätzen 20 Interessierte auf der Warteliste.

Die Kosten übrigens unterscheiden sich nicht von einem Platz in einem klassischen Pflegeheim, so Hayakawa und Ludwig: „Es kostet bei uns so viel wie ein durchschnittlicher Pflegeplatz in NRW.“ Pflegedokumentationen würden genauso angelegt wie in einem Seniorenheim; Prüfungen gebe es sowohl durch die Heimaufsicht als auch durch den MDK. „Für mich ist aber die Qualitätskontrolle durch die Angehörigen am wichtigsten“, sagt Dennis Ludwig.