Bottrop. Stephan Bertram erzählt seine Geschichte, um anderen Missbrauchsopfern zu helfen. Was ihm als Messdiener in Bottrop widerfuhr, quält seine Seele.

Mitte November soll sich im Ruhrbistum ein Betroffenenbeirat konstituieren, der an der Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche mitwirkt. Für Stephan Bertram (58) stellt dieses Gremium eine Möglichkeit dar, über sexuelle Gewalt durch Angehörige der Kirche aufzuklären. Dem Bottroper ist vor allem die Prävention wichtig. Sein erklärtes Ziel ist es daher, direkt mit Priestern in der Ausbildung zu sprechen, sie zu sensibilisieren, indem er seine Geschichte erzählt.

Die Geschichte, mit der sich Stephan Bertram jetzt an die WAZ-Redaktion wandte, auch um anderen Betroffenen Mut zu machen, sich ebenfalls zu öffnen. Und das Tabu zu brechen.

Bottroper Missbrauchsopfer: Eltern glaubten, er wäre beim Kaplan in guter Obhut

„Ich komme aus einer hochkatholischen Familie“, berichtet Bertram. „Mein Opa hatte zehn Geschwister, vier davon waren Nonnen.“ Gewohnt habe er mit seiner Familie an der Cyriakuskirche, „gegenüber vom Dom“. Als Junge war er bei den Messdienern, und seine berufstätigen Eltern glaubten, bei dem charismatischen Kaplan der Gemeinde sei er gut aufgehoben, erzählt der Bottroper.

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Ein fataler Irrtum, wie neben etlichen Betroffenen auch die Öffentlichkeit längst weiß. Denn immer wieder, auch nach Versetzungen, kam es zu sexuellen Übergriffen durch diesen Kirchenmann.

Es war Mitte der 1970er Jahre, das genaue Jahr kann Bertram nicht mehr nennen, als der Kaplan ihm nach einem Messdienerausflug zu den Karl-May-Festspielen vorgeschlagen habe, bei ihm zu übernachten. „Meine Eltern und er hatten einen guten Draht miteinander“, so Bertram, damals erst um die zwölf Jahre alt. Der Kaplan habe ihm Bierchen und Zigaretten angeboten, man habe gemeinsam Fernsehen geschaut, dann sei ihm das Gästezimmer zugewiesen worden. „Bis die Tür aufging, er vor mir stand, unbekleidet, und seine perversen Handlungen an mir verübt hat.“

Schweres Trauma: „Ich kann den Menschen noch riechen und schmecken“

Von zwei Fällen erzählt Bertram. „Ich habe ein so schweres Trauma, dass ich nachts wach werde, nassgeschwitzt. Dass ich diesen Menschen immer noch rieche und schmecke.“ Als Kind davon den Eltern erzählen? „Mein Vater hatte eine strengere Hand, dadurch hat der Kaplan Druck aufgebaut.“ Zudem: „Ganz ehrlich: Ich denke einfach, dass ich auch gar nicht in der Lage gewesen wäre, das zu erzählen, was einem passiert ist.“

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Und so blieb es lange. Seiner ersten Frau habe er sich anvertraut, doch die hatte kein Verständnis; die Beziehung scheiterte. Auch noch nach einem Suizidversuch während der Bundeswehrzeit, „da war ich 25“, habe er sich dem Arzt nicht anvertrauen können. „Irgendwann war der Zenit erreicht. Mein Leben ist von vorne bis hinten verkorkst.“

Missbrauchsopfer vertraute sich lange niemandem an

Er habe nach Abschluss der Lutherschule die Lehre nicht abgeschlossen; hatte im Rückblick „viel zu viele Arbeitsstellen in meinem Leben“ und Probleme damit, Konflikte auszutragen. Heute sei er psychisch und körperlich gar nicht mehr in der Lage zu arbeiten.

Nach Jahrzehnten erst vertraute Stephan Bertram sich 2011 seinem besten Freund an und dann seiner zweiten Frau, die er 2013 kennenlernte. Bertram wandte sich auch ans Bistum Essen. „Ich habe meinen Mut zusammengerafft und die Sache dort aktenkundig gemacht.“ 4000 Euro Entschädigungsleistung habe er bekommen. Inzwischen hat die katholische Kirche angekündigt, Betroffenen bis zu 50.000 Euro zu zahlen.

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Seine zweite Frau habe ihn schließlich auch dazu gedrängt, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, erst ambulant, dann in einer Traumaklinik. Nach der Zeit dort fehlte eine Anschlussbetreuung, berichtet Bertram. „Es ist schwierig in Deutschland, da etwas zu kriegen.“ Doch: „Ich war der hartnäckige Typ. Ich habe das Bistum angeschrieben und gesagt: Ich brauche Hilfe.“ Tatsächlich habe man sich letztlich um einen Therapieplatz für ihn gekümmert und übernehme auch die Kosten.

Bottroper fordert: Sexueller Missbrauch darf strafrechtlich nicht verjähren

Er hofft, die Missbrauchserfahrungen aus seiner Kindheit mit dieser Hilfe besser verarbeiten zu können. „Loslassen wird mich das nicht.“ Für ihn ist ganz klar: Sexueller Missbrauch darf strafrechtlich nicht verjähren. Denn: „Ich nehme das mit bis ins Grab.“

Und Aufklärung darüber tut Not. Eigentlich gehört Bertram zu denen, die von Anfang an einen Platz im neunköpfigen Betroffenenbeirat anstreben. Ein Gespräch jüngst mit Generalvikar und Bischof hat ihn aber in dieser Hinsicht verunsichert. „Da sind ein paar Sachen gefallen, die mir sauer aufgestoßen sind. Was mich zum Nachdenken gebracht hat und wo ich sehe, dass die Kirche immer noch einen Täterschutz hat.“ Vielleicht sei dieses Gremium, auch noch aus anderen Gründen, die er öffentlich nicht konkretisieren will, nicht das Richtige für ihn.

In die Kirche als Gotteshaus zieht ihn jedenfalls absolut nichts mehr. Allerdings: „Ich habe noch ein Gespräch offen mit unserem Propst. Ich habe ihm gesagt, dass ich bis heute noch keine Entschuldigung bekommen habe von der Gemeinde, in der ich Messdiener war.“