Bottrop. Missbrauchsopfer im Ruhrbistum sollen Betroffenenbeirat gründen. Bottroper sehen das mit Hoffnung und Skepsis. Was sie erlitten, hat sie geprägt.
Die Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche ist längst nicht abgeschlossen. Bis Ende des Jahres soll im Ruhrbistum ein Betroffenenbeirat gegründet werden, um denjenigen eine Stimme zu geben, die unter sexueller Gewalt durch Angehörige der Kirche litten – und an den Folgen bis heute leiden. Rund 40 Männer und Frauen kamen im Juni zu einem ersten Treffen in Mülheim zusammen. Einer von ihnen war Dirk Bongartz aus Bottrop.
Lange hat der heute 55-Jährige darüber geschwiegen, was ihm als Kind geschah. Wie sich der Kaplan, der inzwischen längst als vielfacher Täter bekannt ist, an ihn heran machte.
Alles nahm seinen Anfang, als der achtjährige Dirk die Kommunionvorbereitung nicht so ernst nahm, wie er nach Auffassung seiner gläubigen Großmutter sollte. „Opa musste mit mir zur Beichte.“ So habe er letztlich den Kaplan kennen gelernt. „Er war cool, locker, ich war von ihm angetan“, erinnert sich Bongartz. Am liebsten wäre er schon Messdiener geworden wie sein großer Bruder. „Dann kam es zum besagten Tag.“ Der Kaplan bat seine Mutter, ihn auf einen Botengang zu schicken. „Ich habe Briefpapier geholt und ihm gebracht.“ Der Geistliche habe sich bedankt, dem Jungen zehn Mark gegeben. Und zu ihm gesagt: Du kannst gerne mal beim Kaplan übernachten. Als Auszeichnung verstand der Junge das. „So fing das an.“
Bottroper konnte nicht über den Missbrauch reden
Seine Mutter aber wollte zunächst nicht, dass ihr Sohn beim Kaplan schlief. Erlaubte es aber schließlich, als sein großer Bruder, der sich zunächst sträubte, und dessen Freund mitgingen. „Wir sind zu dritt zu ihm.“ Als es ans Schlafen ging, erhielten sein Bruder und dessen Freund ein Zimmer – und er selbst allein ein anderes, erzählt Bongartz. Kurze Zeit, nachdem er sich hingelegt hatte, habe der Kaplan, unterm Morgenmantel nackt, sich zu ihm gelegt und ihn angefasst.
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Als der Junge den erwachsenen Mann berühren sollte, sträubte er sich, jammerte, er solle aufhören. „Als ich zu meckern anfing, hat er sofort mein Bett verlassen.“ Möglicherweise, weil ja noch andere in der Wohnung waren. Jedenfalls: „Da war das durch“, berichtet Bongartz.
Betroffener aus Bottrop: Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter
Sein Bruder habe am nächsten Tag nur gemeint: Siehst du jetzt, was der Kaplan für ein Toller ist. Darüber mit Erwachsenen sprechen? Keine Option. Vor allem nicht beim Gedanken an die Oma, die der Kirche sehr zugewandt war, wie Bongartz erzählt.
So macht er all das bis ins Erwachsenenalter mit sich alleine aus. Bis er vor über zehn Jahren in der Stadt zufällig Markus Elstner traf, einen Jugendfreund, der zu dem Zeitpunkt gerade für sich erfahren hatte: Es hilft, über den Missbrauch zu sprechen. Bongartz stellte fest: Bei Elstner, der als Junge eine Familientragödie erlebt hatte, ging der Kaplan vor über 40 Jahren noch sehr viel weiter.
Elstner glaubt heute fest daran: „Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter.“ Er hat seine Geschichte schon oft erzählt. Der 55-Jährige ist in Bottrop und darüber hinaus für seine Aktionen bekannt, die oftmals in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern die Themen Kinderrechte, Schutz vor sexueller Gewalt und Folgen von Missbrauch in den öffentlichen Fokus rücken.
Bottroper hoffen, dass der Betroffenenbeirat unabhängig sein wird
So konnte er an dem Infotreffen für den Beirat nicht teilnehmen (und durfte auch keinen Vertreter schicken), da er zur gleichen Zeit einer Einladung zur Teilnahme an einer Präventionsveranstaltung in Bayern gefolgt war. Dorthin wurde der Kaplan einst einfach versetzt, ohne aber mit seinen Untaten aufzuhören. Zuletzt kehrte der wegen Missbrauch vorbestrafte über 70-Jährige im Jahr 2020 unter Aufsicht in sein Heimatbistum Essen zurück – „und ich gehe jetzt wieder mit Scheuklappen durch die Stadt“, beschreibt Elstner die Emotionen, die das auslöst.
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Der Bottroper hofft, dass der Betroffenenbeirat wirklich unabhängig sein wird „und nicht wieder irgendwo zensiert wird“. Er begrüßt die Schaffung dieser Plattform, ist nach seinen Erfahrungen mit der Kirche aber skeptisch, wie sich alles gestalten wird.
Bischof Franz-Josef Overbeck weiß das und richtete diese Worte an die Betroffenen: „Es ist sicher sehr schwer, einer Institution Vertrauen zu schenken, die Ihr Vertrauen einst schändlich missbraucht hat und deren Vertreter schreckliche Verbrechen begangen haben.“
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Der 55-Jährige hat der Kirche letztlich übrigens nicht den Rücken gekehrt. „Seitdem meine Kinder auf der Welt sind betrete ich unsere Kirche wieder“, sagt Bongartz. Er verurteile nicht Gott dafür, was der Kaplan gemacht habe. Andererseits habe er lange viel verdrängt. „Ich habe noch einmal mein Leben Revue passieren lassen. Vielleicht lag es doch an dem Schock von damals, dass ich bis zu meinem 30. Lebensjahr alkoholabhängig war.“
Kritik an schleppender Entschädigung durch die katholische Kirche
Ein Thema bei dem Treffen zur Gründung eines Betroffenenbeirats, bei dem es teils sehr emotional zugegangen sei, sei die schleppende Entschädigung durch die katholische Kirche gewesen, das lange Warten auf Anerkennung. Teils seien Betroffene ja bereits schon verstorben. „Der Bischof hat gesagt, dass es ihm leid tue, dass das alles nicht so schnell geht“, so der Bottroper Dirk Bongartz.
Die Sache liegt deutschlandweit seit Januar in Händen der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA). Diese entscheidet nach entsprechender Antragstellung über die Höhe der Zahlungen an kirchliche Missbrauchsopfer. Das aber dauert offenbar, auch Essens Generalvikar Klaus Pfeffer beklagte den „Bearbeitungsstau“ der Unabhängigen Kommission.
Katholische Kirche will Missbrauchsopfern bis zu 50.000 Euro zahlen
Die katholische Kirche hatte angekündigt, Betroffenen bis zu 50.000 Euro zu zahlen. Bongartz hat beim Treffen in Mülheim von solchen Leidensgeschichten erfahren, dass er empfand: „Sie sollten alle 50.000 Euro bekommen.“ Er selbst überlegt noch, ob er überhaupt einen Antrag stellt.
Markus Elstner betont: „Mir ging es nie ums Geld, ich mache das alles für die Sache.“ Er will aufklären, weitere Taten verhindern, setzt sich auch für die Abschaffung der strafrechtlichen Verjährungsfrist nach sexuellem Missbrauch ein. Gerade plant er eine neue Aktion „in Gedenken an alle Betroffenen, die den Missbrauch nicht überlebt haben“; die sich umgebracht oder mit Alkohol und Drogen zugrundegerichtet haben. Er denkt an einen Grabstein, der auf den Spuren des Kaplans durch Deutschland wandern soll.
Gleichzeitig sagt Elstner heute mit Blick auf die Folgen des Missbrauchs für sein Leben, lange geprägt von Alkoholsucht, Scheitern im Arbeitsleben, in Beziehungen: „Die haben mein Leben auf dem Gewissen.“ Mit seinem Anwalt kämpft er um 500.000 Euro Entschädigung. Die Zusage für die Übernahme der Kosten für den Aufenthalt in einer Trauma-Klinik hat er gerade von der Kirche erhalten.
Anliegen einbringen
Das Bistum Essen teilt mit: Die Einrichtung eines Betroffenenbeirates ist Teil der Vereinbarungen zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Ziel sei es, den Betroffenen eine Stimme und die Möglichkeit zu geben, ihre Belange, Anliegen und Interessen in die laufenden Aufarbeitungsprozesse einzubringen.
Bis Ende Juli können Betroffene ihre Bereitschaft zur Mitarbeit in dem weisungsunabhängigen Gremium erklären. Über die personelle Besetzung sollen die Betroffenen selbst entscheiden können, sagt Dirk Bongartz. Mitte November soll sich der Beirat konstituieren.