Dorsten. Ein 15-Jähriger zeigt seinen Pfarrer wegen Missbrauchs an. Wie die EKD reagierte und er nach Anfeindungen den Glauben verlor: ein Rückblick.

Er würde es wieder tun. 2017 hatte der damals 15-jährige Dorstener seinen Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Gahlen/Hardt wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Erst in diesem Jahr, viereinhalb Jahre nach den Taten, hat das Dienstgericht der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den 64 Jahre alten Gottesmann verurteilt. Viereinhalb Jahre, in denen das Opfer, der heute 20-Jährige, unter Anfeindungen und Gerüchteküche in der Gemeinde leiden musste. Dennoch: „Ich bin froh, dass ich die Anzeige gemacht habe. Damit er keinen anderen Kindern schaden kann.“

Im Sommer 2016, so die Anzeige, hatte der Pfarrer den in seiner Gemeinde engagierten Jugendlichen auf Gemeindefesten einmal an Rücken und Gesäß, ein anderes Mal an den Genitalien berührt. „Ich war wie gelähmt“, erinnert der junge Mann sich. Es dauerte einige Zeit, bis er sich seiner Jugendleiterin und seinen Eltern anvertraut hatte und zur Polizei ging. Es gab Augenzeugen.

Pfarrer zahlte 2500 Euro Wiedergutmachung

Schnell reagierte damals die Staatsanwaltschaft Essen, nachdem Rüdiger Deckers, der prominente Düsseldorfer Anwalt des Pfarrers, eine Erklärung abgab, sein Mandant „tritt den Vorwürfen nicht entgegen“. Die Staatsanwaltschaft wertete das als Schuldeingeständnis und stellte das Verfahren gegen eine Geldauflage in Höhe von 2500 Euro ein. Das Geld soll der Jugendliche als „Wiedergutmachung“ bekommen, wie es Anwalt Deckers am 11. April 2017 schriftlich formuliert.

Jetzt muss die evangelische Kirche reagieren. Will sie einen solchen Pfarrer weiter in ihren Reihen dulden? Reichen ihr die 2500 Euro Wiedergutmachung als Sanktion? Nach Bekanntwerden der Vorwürfe im September 2016 hatte sie den damals 60-Jährigen beurlaubt, allerdings bei vollen Bezügen. Und im Pfarrhaus durfte er weiter wohnen. Ein kircheninternes Disziplinarverfahren sollte entscheiden, wie die Kirche mit dem Fall umgeht.

Landeskirche fordert Versetzung des Pfarrers in den Ruhestand

Die zuständige Evangelische Kirche im Rheinland hatte das Verfahren an das EKD-Gremium in Hannover abgetreten und dort die Versetzung des Kirchenmannes in den Ruhestand bei gekürzten Bezügen beantragt. Aus vielerlei Gründen zog es sich in die Länge. Als im Januar 2021 endlich auch das Opfer in Hannover vernommen werden sollte, vereitelte der Pfarrer das mit einem Rückzieher. Mittlerweile 64 Jahre alt, beantragte er selbst seine Versetzung in den Ruhestand zum 1. Mai 2021.

Das hatte er am 18. Januar 2021 dem „Kirchengericht der EKD – Disziplinarkammer“ geschrieben und eine Art Entschuldigung mitgeliefert: „Ich kann mich an die Vorfälle am 16. Juni 2016 (25-jähriges Dienstjubiläum) und 3. September 2016 (KiTa-Fest) nicht mehr im Detail erinnern. Es kann aber sein, dass die Aussagen von Herrn … über mein Verhalten zutreffen und dieses – entgegen meiner Absicht – als übergriffig empfunden werden konnte.“ Er thematisierte nicht weiter, in welcher Absicht ein Mann einen Jungen sonst an den Genitalien berührt.

Kontakte mit Kindern und Jugendlichen untersagt

Das Kirchengericht verurteilte ihn darauf zu einer Kürzung der Ruhestandsbezüge, teilte Jens Peter Iven, Sprecher der Evangelischen Kirche im Rheinland, auf Anfrage der WAZ mit. Mehr will er dazu nicht sagen. Nach Informationen der WAZ gibt es für den Pfarrer vier Jahre lang 20 Prozent weniger. Das war es dann. Außerdem, so wiederum Iven, darf der früher für seine Jugendarbeit gelobte Pfarrer auch im Ruhestand „nicht mehr in Bereichen tätig sein, in denen er gezielt mit Kindern und Jugendlichen zusammen sein würde“.

Das war der amtliche Weg. Gestört hat den 20-Jährigen die Gerüchteküche in der Gemeinde, aber auch die mangelnde Unterstützung durch das Presbyterium. Begünstigt wurde das Gerede, weil es strafrechtlich keine Verurteilung, sondern nur die Einstellung gegeben hatte. Obwohl die Kirchenleitung den Pfarrer beurlaubt hatte, soll er in den viereinhalb Jahren Gemeindemitgliedern erzählt haben, an den Vorwürfen sei nichts dran. Fortan bekam der Jugendliche über mehrere Ecken zu hören, er habe den Mann zu Unrecht angezeigt, weil dieser dem 15-Jährigen auf dem Gemeindefest ein Bier versagt hätte. „Das Schlimmste“, sagt er, ist das Gefühl, dass viele einem nicht glauben“.

Opfer hat sich von der Kirche gelöst

Eindringlich erzählt der 20-Jährige davon, wie er ausgegrenzt wurde, wie nur noch seine richtigen Freunde ihn unterstützten. Von der Kirche hat er sich gelöst, hat den Glauben verloren – so wie einige seiner Familienmitglieder. Er berichtet von der psychologischen Behandlung, in die er sich begeben musste, weil ihm die Situation so zu schaffen machte.

Im Gegensatz zum Eindruck in der Öffentlichkeit hat ja nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche in Deutschland ihr Kreuz mit dem Missbrauch zu tragen. Eine komplette Aufarbeitung der Missbrauchsfälle hat bisher nicht stattgefunden, im Mai löste die EKD sogar den Betroffenenbeirat auf, in dem die mutmaßlichen Opfer zu Wort kommen sollten.

Gefälschter Brief soll Opfer als Lügner enttarnen

Repro des gefälschten Briefes
Repro des gefälschten Briefes © privat | privat

Mit der Arbeit der Amtskirche in seinem Fall ist der 20-Jährige aber zufrieden, auch wenn er die Dauer des Verfahrens und die seiner Ansicht nach zu milde Sanktion kritisiert. Es habe immer Gespräche gegeben. Die Gemeinde war das Problem für ihn. Aus diesen Kreisen muss ein handschriftlicher Brief an seine Tante stammen, die sich immer für ihn eingesetzt hatte.

Das Schreiben ist natürlich nicht von ihm, das liest man schnell heraus. Darin lobt der unbekannte Verfasser den Pfarrer über alle Maße. Er schreibt, er selbst, also angeblich der junge Mann, habe sich beim Pfarrer immer wieder ins Gespräch gebracht und ihn dann angezeigt, weil dieser ihn mit den Worten „Du nervst!“ habe abblitzen lassen. Jetzt plage den Briefeschreiber, also angeblich das Opfer, ein schlechtes Gewissen wegen der Anzeige: „Sollte ich mich nicht beim Pastor entschuldigen? Er hat nun wirklich nichts getan.“

Anfeindungen aus der Gemeinde

Anfeindungen, Intrigen, mit denen ein Heranwachsender fertig werden muss. So wie der junge Mann heute wirkt, hat er es wohl ordentlich verarbeitet. Auch den Leserbrief, der vor wenigen Wochen in der Dorstener Lokalzeitung stand. „Wer ohne Fehler, der werfe den ersten Stein“, schrieb eine Frau, die sicher sein will, dass der Pastor nichts gemacht hat.

Und die Mitteilung im Gottesdienst, dass die Vorwürfe gegen den Pfarrer zwar begründet seien, die Gemeinde ihm aber auch für die langjährige Arbeit danke, wirkte nicht glücklich. Auch das muss man als Opfer hinnehmen.

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Evangelische Kirche kämpft auch mit Vorwürfen des Missbrauchs

Im Mittelpunkt der Diskussion um sexuellen Missbrauch in der Kirche steht meistens die römisch-katholische. Sie sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, dass ihre Sexualmoral und das Zölibat diese Taten begünstigen. Aber auch die evangelische Kirche kennt den sexuellen Missbrauch durch ihre Amtsträger.

Der Essener Friedhelm Münten musste lange vor Gericht kämpfen, bis er als Opfer von Misshandlungen im evangelischen Kinderheim Westufeln bei Werl anerkannt wurde. Mittlerweile steht auf der Homepage der Einrichtung eine Bitte um Verzeihung. In den 1950er- und 1960er-Jahren war es dort zu zahlreichen Fällen physischer und psychischer Gewalt gegen Heimkinder gekommen sowie zahlreicher sexueller Übergriffe.

In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte es an der hessischen Odenwaldschule, einem Elite-Internat, zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben. Die Schule befand sich zwar in privater Trägerschaft, die Leitung war aber bestens vernetzt in der evangelischen Kirche.

Als größter Missbrauchskandal gilt der von Ahrensburg in Schleswig-Holstein. Unter dem Deckmantel fortschrittlicher Jugendarbeit soll es dort in den 1970er und 1980er Jahren durch einen evangelischen Pastor zu den Taten gekommen sein. Untersuchungen ergaben später, dass die Vorwürfe vertuscht wurden. Die Landesbischöfin Maria Jepsen erklärte ihren Rücktritt.

Missbrauchsopfer beklagen, dass es in der protestantischen Kirche durch Tabuisierung eine hohe Dunkelziffer geben müsse. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung hatte im vergangenen Jahr eine zu langsame Aufarbeitung durch die evangelische Kirche beklagt.