Bochum. Die Transplantationsmedizin in Deutschland durchleidet eine tiefe Krise. Nach dem Skandal 2012 ist die Zahl der Organspenden auf einen Tiefstand gesunken. Das WAZ-Nachtforum Medizin zeigte in dieser Woche Lösungsansätze und Perspektiven auf.
Die Entwicklung sei „furchtbar“, die Zahlen „schrecklich“. Die Transplantationsmedizin stehe „vor einem Scherbenhaufen“, konstatiert Prof. Dr. Richard Viebahn, Chefarzt am Knappschaftskrankenhaus Langendreer. Beim WAZ-Medizinforum wurden am Donnerstagabend zumindest einige der Scherben zusammengefegt – und Perspektiven für die Zukunft der Organtransplantation aufgezeigt.
„Projekt neues Leben“, so der Titel des Nachtforums: Immer weniger Menschen können ihr Leid in Zuversicht verwandeln. Nach den 2012 aufgedeckten Manipulationen u.a. an der Uniklinik Göttingen wurden 2013 in Deutschland nur noch 876 Organe gespendet. Ein historischer Tiefstand. Die Wartezeiten etwa für eine Niere liegen inzwischen bei sieben bis zehn Jahren: zu lang für zahlreiche Patienten, die sterben, obwohl sie noch viele Jahre leben könnten.
Fälschung als versuchte Tötung
So emotional das Thema, so sachlich war die Diskussion in der mit 250 Besucher voll besetzten Klinik-Cafeteria. Im Blickpunkt: Prof. Dr. Torsten Verrel, Strafrechtler an der Universität Bonn. Als Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer war und ist er intensiv mit dem Spendeskandal befasst. Mitleid, Renommee, Konkurrenzdruck und mangelndes Unrechtsbewusstsein macht er als mögliche Motive für die Fälschung von Krankenakten aus.
Das Vergabesystem über Eurotransplant indes hält er für tauglich. Spät, aber nicht zu spät seien die Konsequenzen aus den Tricksereien auf den Weg gebracht worden: u.a. eine Auskunfts- und Veröffentlichungspflicht für die Transplantationszentren (die gab’s bis 2012 unglaublicherweise nicht) und eine Änderung des Transplantationsgesetzes mit dem Ziel, Fälschungen wie in Göttingen strafrechtlich als versuchte Tötung zu ahnden.
80 Millionen Einwohner - 876 Organspenden
„Wir sind im Tief und können nur hoffen, dass das Vertrauen neu aufgebaut werden kann“, so Prof. Verrel. Dazu müsse weiter intensiv für die Organspende geworben werden, bekräftigt Peter Fricke, Vorsitzender des Bundesverbandes der Organtransplantierten: „Ich stelle immer wieder fest, dass vor allem junge Menschen trotz der persönlichen Anschreiben der Krankenkassen gar nicht oder unzureichend informiert sind.“ Die Widerspruchslösung wäre für ihn ein wirksames Instrument.
Ein WAZ-Leser brachte es auf den Punkt: „Der größte Skandal ist, dass Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern auf gerade mal 876 Organspenden kommt.“
Strafrechtler: Auch Freunde sollen spenden dürfen
Markus Brinkmöller fühlt sich gut. Im vergangenen Jahr wurde dem 45-Jährigen im Knappschaftskrankenhaus eine neue Niere eingesetzt. Spender: seine eigene Frau. Seither geht es dem Dattelner wieder „richtig prima“. Als Postbote ist er längst wieder voll im Dienst.
Im Zeichen zurückgehender Organspenden erscheint die Lebendspende für viele Patienten der einzige Weg zurück ins Leben. Strafrechtler Prof. Verrel sprach sich beim WAZ-Nachtforum dafür aus, künftig nicht allein Verwandte als Spender zuzulassen. Auch enge Freunde sollten helfen dürfen – selbstverständlich als reiner Freundschaftsdienst, ohne jedes finanzielle Interesse. Jede Art von Belohnungs- und Prämiensystem, etwa bei der Rente, öffne die Türen für menschenverachtenden Organhandel, wie er in Entwicklungsländern bereits zu beobachten ist.
Flammender Appell an die Bürger
Dringend warnten die Experten vor einer „Bestenauslese“ bei der Organverteilung. Kann und darf es Patienten geben, die zu krank für eine Transplantation sind? Und: Wie krank ist zu krank? Diese Frage sei ethisch und rechtlich kaum zu beantworten. Letztlich habe jeder Patient, auch mit eher geringen Erfolgsaussichten, einen Anspruch auf das lebensrettende Organ, betont Prof. Dr. Timm Westhoff vom Marien-Hospital Herne. Peter Fricke vom Bundesverband der Organtransplantierten schränkt ein: „Was bringt eine hohe Dringlichkeit, wenn der Patient beim oder kurz nach dem Eingriff stirbt?“
Organtransplantationen
Allen Referenten gemein ist der flammende Appell an die Bürger, als Spender bereitzustehen. Es habe 2012 nur wenige schwarze Schafe gegeben. Das Gesamtsystem Organspende sei zuverlässig und verdiene mehr denn je Vertrauen.
Telefonsprechstunde am Montag
Für Fragen zu Organspenden steht Dr. Peter Schenker vom Knappschaftskrankenhaus am Montag, 26. Mai, bei einer Telefonsprechstunde unter 0234 299 32 01 zur Verfügung. Die Leitung ist von 13 bis 15 Uhr geschaltet.