Bochum. . Es ist ein Wunder, dass der kleine Mussa aus Bochum noch lebt. Ein Sessel, den ein Mann beim Entrümpeln aus dem zweiten Stock warf, fiel ihm beim Spielen auf den Kopf. Heute kann das Kind wieder gehen - doch es sind auch seelische Schäden zurück geblieben. Und das Kind braucht weitere Operationen.
Mussa hat sein Spiderman-Kostüm angezogen, das macht er gern, wenn Besuch kommt: Er sieht stark darin aus, nicht nur wegen der eingenähten Muskeln. Der Anzug jedoch passt ihm nicht mehr so recht, zu eng und zu kurz geworden, ein gutes Zeichen: Mussa ist gewachsen! Dabei ist es ein Wunder, dass der Fünfjährige überhaupt noch lebt.
Denn dieser Junge war es, dem im Mai in Bochum aus heiterem Himmel ein Sessel auf den Kopf fiel.
Mussa erinnert sich daran, er weiß auch, was sonst noch aus dem Fenster der Nachbarn flog, zehn Meter tief: eine Matratze, eine Stange, Holz. Aber er spricht nicht darüber, und er hasst es, wenn es andere tun. Er sagt nicht: "Hört auf!", er wird bloß so wütend, sagt alle Schimpfwörter, die er kennt, und haut seine Mutter mit der rechten Hand; die linke hängt so hilflos an ihm herunter, dass er sich die Ohren nicht zuhalten kann. "Er hat so viel Angst", sagt Nasira, 33, er geht ja nicht mal mehr allein in sein Zimmer.
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"Er hat immer Fußball gespielt"
Es ist ein neues Zimmer, das er mit seinem Bruder Issa teilt. Die Familie musste umziehen, fort aus Dahlhausen, wo die Nachbarn, die damals entrümpelten, immer noch wohnen, wo Mussa sich bei einem kurzen Besuch versteckte, "Aufpassen!" rief und voller Furcht in die Luft sah, als könnten von dort gleich wieder Möbel kommen. Ein 24-jähriger Mann hatte an jenem 29. Mai den Sessel aus dem zweiten Stock geworfen; er räumte auf im Auftrag des Wohnungseigentümers (51). Die schweren Teile, soll man ihm gesagt haben, solle er einfach in die Einfahrt werfen. Dort aber spielte Mussa mit seinem Bruder Fußball. "Er hat immer Fußball gespielt", sagt sein Vater Walid (37).
Er war es, der seinen stark blutenden Jungen auf seinen Armen ins Krankenhaus trug, „Mussa ist tot!“, hatte die große Schwester Sabrin (8) geschrien, und Walid konnte nicht hinsehen. "Dieser schiefe Kopf. Ich wusste nicht, dass man so einen Kopf wieder gerade machen kann." Die Ärzte wussten es auch nicht, sie sprechen ja selbst von einem Wunder. "Machen Sie sich keine Hoffnung", haben sie den Eltern gesagt, "so einen Schlag kann ein Mensch nicht überleben."
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Fünf Operationen, zehn Tage im Koma
Fünfmal haben sie das Kind operiert, fast zehn Tage lag Mussa im Koma, fast ein halbes Jahr in Kliniken, und es ist noch nicht vorbei. Zwar ist die Schwellung zurückgegangen und ein Teil der Schädelplatte schon wieder eingesetzt, aber irgendetwas stimmt nicht – der Fünfjährige wird wieder ins Krankenhaus müssen.
Wieder fort von seiner kleinen Schwester Kaousar (2), deren Namen er als erstes rief, als er im Juni erwachte. Fort von Issa und Sabrin, die mit seinem gelähmten Arm üben, den Mussa schon wieder heben kann bis zur Schulter. Fort von der Mama, die er mit Schweigen strafte, wenn sie nicht täglich die eineinhalb Stunden mit Bus und Bahn bis zur Reha-Klinik in Meerbusch fuhr. Geweint hat ihr Sohn dort selten, "er glaubte", sagt Mutter Nasira, "dann darf er nicht nach Hause." Bis heute sagt Mussa nichts über Kopfschmerzen; sie erkennen sie daran, dass der Junge still auf dem Sofa sitzt. Keiner weiß, wo er dann ist, Nasira sagt: "Er hat sich seine eigene Welt gebaut."
Er fällt viel hin, aber er läuft
Sonst nämlich tobt er, so wild, dass niemand hinsehen kann, über das glatte Laminat in der neuen Wohnung, in der noch so viel fehlt. Und schon gar nicht glauben, dass dieses Kind im Sommer noch reglos im Rollstuhl saß, halbseitig gelähmt durch die schwere Hirnquetschung, kahlköpfig und dünn. "Gott sei Dank", denken seine Eltern immer nur, "Gott sei Dank", denn Mussa ist tatsächlich wieder aufgestanden. Er läuft auf Zehenspitzen, weil er seinen linken Fuß ebenso wenig krümmen kann wie seine Hand, er fällt viel hin, aber er läuft. Drei verschiedene Schienen, das Bein zu stützen, liegen auf der Fensterbank, eine vierte für die Hand ist auch schon zu klein, den schützenden Helm aber mag er nicht tragen.
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Die Haare wachsen zwar wieder, diese niedlichen Locken, die ihm früher um das Gesicht tanzten. Schon verdecken sie die schlimmsten Narben im Nacken; zu ahnen sind nur die auf der Stirn. Sie haben ihm die Haare geschoren im Krankenhaus, und weil Mussa das so schrecklich fand, tat der Papa es mit seinen auch. Ob aber der Fuß je wieder richtig gehen, die Hand wieder richtig greifen wird – es weiß noch niemand.
Im Kindergarten gibt es keine Betreuerin für ihn
Im Kindergarten haben die anderen Kinder Mussa, der mal ein kleiner Rocker war mit seinem "Cars"-Rucksack, nicht einmal erkannt. Seinen linken Arm hatte er hinter dem Rücken versteckt, den Helm zu Hause gelassen, er denkt: "Alle lachen über mich." Vorerst kann Mussa auch nicht wieder hingehen; sie haben im Kindergarten keine eigene Betreuerin für ihn.
Zu Weihnachten wünscht sich Mama Nasira "eine gerechte Strafe" für die ehemaligen Nachbarn. Der Staatsanwalt hat inzwischen Anklage erhoben wegen fahrlässiger Körperverletzung. Und die Familie hätte gern "gesunde Kinder". Das ist viel. Mussa, der kleine Spiderman, weiß das nicht, der will schon wieder Purzelbäume machen, was er nicht darf. Sein größter Wunsch? "Ein Supermann."