Bochum/Köln. Erst waren 20.000 Demonstranten angekündigt, jetzt sollen es schon 30.000 sein. Der Protest gegen die Vergabe des Steiger-Awards an den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Bochum wächst. Die Aleviten in Deutschland sind die treibende Kraft - und sie nennen ihre Gründe.

Erdogan ist eine Reizfigur für viele Minderheiten in und außerhalb der Türkei, die vom türkischen Staat verfolgt wurden oder werden: für Armenier, Kurden und Aleviten, um die wichtigsten zu nennen. Alle haben sie Demonstrationen gegen die Vergabe des Steiger-Awards für Toleranz an Erdogan am Samstag angekündigt, das ist nicht überraschend.

30.000 Aleviten sollen sich angekündigt haben für morgen in Bochum, 300 Busse, Stand Freitagmorgen. Einige sollen auch aus Frankreich, Österreich, der Schweiz und Dänemark kommen. In Holland sei sogar eine Paralleldemonstration geplant mit 4000 bis 5000 Teilnehmern, erklärt Ali Dogan, Generalsekretär der deutschen Aleviten. Um 14 Uhr soll es in Bochum am Revierpower-Stadion mit einer Kundgebung losgehen. Der Protestmarsch soll über 1,8 Kilometer am Bergbaumuseum vorbei zum Europaplatz führen und um 19 Uhr mit einer weiteren Kundgebung friedlich enden. Die Proteste der Armenier und weiterer Gruppen fänden separat statt, erklärt Dogan. Dies solle der Protest der Aleviten sein.

Symbolkräftiger Gerichtsprozess entschieden

30.000 Demonstranten aus mehreren Ländern - damit hat wohl niemand gerechnet. Am wenigsten wohl Veranstalter Sascha Hellen. Doch die Dynamik ist erklärbar: Weitgehend unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit wurde am Dienstag in der Türkei ein symbolkräftiger Gerichtsprozess entschieden. Es ging um das "Massaker von Sivas". Wie die Aleviten es nennen.

1993 wurden 35 Teilnehmer einer regierungskritischen Versammlung in Sivas von einer wütenden Menge gelyncht. Hauptsächlich Aleviten. Sie verbrannten in ihrem Tagungshotel, der Mob verhinderte ihre Flucht vor dem Feuer. "Ein Wendepunkt in unserer Geschichte", sagt Hidir Temel, Vorstandsmitglied der Alevitischen Gemeinde Deutschland. "Vorher haben wir uns versteckt, nach Sivar standen wir zu unserer Identität." Am Dienstag nun schritten die mutmaßlichen Rädelsführer als freie Männer aus dem Gericht. Verjährung. 19 Jahre hatte die türkische Justiz für den Prozess gebraucht. Ohne Ergebnis.

"Es geht hier um einen deutschen Preis für Toleranz"

"Die türkische Justiz hat den Prozess bewusst verschleppt", sagt Dogan. Erdogan habe das Ergebnis öffentlich mit den Worten kommentiert: Das ist ein segensreiches Ereignis für unser Land." Gegen die alevitischen Demonstranten vor dem Gericht Sei Tränengas eingesetzt worden, auch zwei deutsche Vorstandsmitglieder der alevitischen Geneinde wurden verletzt. Dies war live im Fernsehen zu beobachten - auch in Deutschland.

"Wir wollen nicht den Eindruck erwecken", sagt Dogan, "dass wir Herkunftsland-Probleme importieren. Es geht hier um einen deutschen Preis für Toleranz." Dies sei nicht akzeptabel. Man wolle aufzeigen, dass Erdogan das Gegenteil verkörpert.

Steiger-Veranstalter Sascha Hellen hatte auf Anwürfe reagiert: Der Preis ginge nur stellvertretend an Erdogan , gelte aber dem gesamten türkischen Volk im 50. Jubiläumsjahr des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens. Die Aleviten halten dies für eine Schutzbehauptung. "Gerade unter den ersten Bergarbeitern, die nach Deutschland kamen, befanden sich viele Aleviten, Kurden, Armenier, die sich nicht durch Herrn Erdogan vertreten fühlen", so Dogan. "Uns wäre es lieb gewesen, wenn zum Beispiel ein Vertreter dieser Generation stellvertretend den Preis bekommen hätte.

Polizei warnt vor Behinderungen - die Demos in der Übersicht 

Insgesamt sind - Stand Freitagvormittag - fünf Veranstaltungen angemeldet. Die Polizei in Bochum warnt ausdrücklich vor "erheblichen Verkehrsbehinderungen" in der Stadt.

Die Veranstaltungen im Überblick:

  • Alevitische Gemeinde - 14.30 Uhr Versammlung Revierpower-Stadion. Nach zwei Stunden Marsch Richtung Bergbaumuseum über Castroper Straße, Nordring, Herner Straße. 30 Minuten Kundgebung am am Bergbaumuseum. Dann zurück Richtung Stadion.
  • Kurden - 2000 Teilnehmer angemeldet. 16.30 Uhr Treffen am Kurt-Schumacher-Platz, Marsch über Südring bis Rottstraße, über Annastraße, Alleestraße. 30 Minuten Kundgebung, dann über Alleestraße zum Willy-Brandt-Platz. Abschlusskundgebung bis 20.30 Uhr.
  • Zentralrat der Armenier - 500 Teilnehmer angemeldet. 15 bis 17.30 Uhr Husemannplatz.
  • Bündnis gegen Antisemitismus - 50 Teilnehmer angemeldet. Kundgebung von 16 bis 18 Uhr, Dr.-Ruer-Platz.
  • Föderation türkischer Sozialdemokraten. 16 bis 19 Uhr Christuskirche.

Kommentar: Warum der Steiger-Award für Erdogan eine schlechte Idee ist

Das sind die Preisträger des Steiger-Awards 2012:

Charity

Königin Silvia von Schweden

Toleranz

Prof. Dr. Horst Köhler

Künstlerisches Lebenswerk

Christiane Hörbiger

Kunst

Wolfgang Joop

Film

Christine Neubauer

Musik

Lou Reed (in Abwesenheit verliehen)

Umwelt

Hannes Jaenicke

Medien

Peter Kloeppel

Steiger Award Ruhrgebiet

Steven Sloane

Nachwuchs

Tim Bendzko

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