Bochum. Das Erdbeben in der Türkei hat in Bochum eine große Hilfsbereitschaft entfacht. Wie die Opfer unterstützt werden – und welche Probleme es gibt.

„Bochum ist solidarisch, in bester bergmännischer Tradition. Das hat mich tief bewegt.“ Zweimal ist Serdar Yüksel in die Türkei gereist, um Nothilfe für die Opfer des Erdbebens zu leisten. Alle Spenden hätten ihr Ziel erreicht, versichert der SPD-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Bochum. Mit anderen Aktivisten und Initiativen appelliert er zugleich: Die Unterstützung muss weitergehen.

Erdbebenhilfe in der Türkei: Awo-Chef war zweimal im Katastrophengebiet

Nach dem verheerenden Beben im Februar zählte die Awo zu den ersten Organisationen in Bochum, die zu Spenden aufriefen (Infos: awo-ruhr-mitte.de). Bewusst habe man auf Sachspenden verzichtet, sagt Yüksel. Als Aufsichtsratsmitglied der UNO-Flüchtlingshilfe wisse er, dass der Transport von Hilfsgütern häufig für Ärger sorge, viel Zeit und Geld koste – und nicht selten an der Grenze ende.

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Die Awo Ruhr-Mitte bat um Geld. 40.000 Euro kamen in den ersten Tagen zusammen. Knapp zwei Wochen nach dem Beben flog Yüksel mit dem Ehrenamtler Philipp Witt auf eigene Kosten nach Diyarbakır in der Osttürkei. „Für 40.000 Euro kauften wir 25 Tonnen Lebensmittel, 550 Hygienepakete, Spielsachen und ein großes Zelt“, schildert Yüksel.

In einem Lastwagen wurden die mit den Awo-Geldspenden in der Türkei gekauften Hilfsgüter ins Erdbebengebiet transportiert.
In einem Lastwagen wurden die mit den Awo-Geldspenden in der Türkei gekauften Hilfsgüter ins Erdbebengebiet transportiert. © Witt

Serdar Yüksel rechnet mit mehr als 200.000 Todesopfern

In einem Transporter ging’s vier Stunden nach Adıyaman, „eine Stadt ähnlich groß wie Bochum mit offiziell 4000 Todesopfern. Vor Ort erfuhr ich von Ärzten, dass mindestens 30.000 Menschen umgekommen sind. 16.000 Gebäude sind komplett zerstört.“ Überhaupt: Der türkische Staat verfälsche die Opferzahlen, um vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom eigenen Versagen abzulenken. „Angeblich sind es 50.000 Tote. Tatsächlich dürften es mehr als 200.000 sein. Ich kenne Dutzende Familien in Bochum, die Angehörige verloren haben“, sagt der Politiker im WAZ-Gespräch.

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Zurück in Bochum, war das Awo-Spendenkonto bald auf 100.000 Euro gewachsen: auch dank der großen Benefizveranstaltungen u.a. im Schauspielhaus und in der Christuskirche. Im Frühjahr reiste Yüksel erneut ins Katastrophengebiet. Diesmal wurden in Zusammenarbeit mit der örtlichen Lehrergewerkschaft in Adıyaman gezielt Hilfsgüter für Familien gekauft und verteilt.

Nachdem der Bochumer Verein „Das Kollektiv“ im Februar mit großem Erfolg Sachspenden für die Erdbebenopfer gesammelt hat (Foto), wird jetzt um Geldspenden für weitere Hilfsaktionen gebeten.
Nachdem der Bochumer Verein „Das Kollektiv“ im Februar mit großem Erfolg Sachspenden für die Erdbebenopfer gesammelt hat (Foto), wird jetzt um Geldspenden für weitere Hilfsaktionen gebeten. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Geldspenden sind bei Hilfsorganisationen das Gebot der Stunde

95 Prozent der Spendengelder hat die Awo inzwischen ausgegeben. Fünf Prozent sind als Notfonds für Erdbebenopfer vorgesehen, die bei Verwandten in Bochum ein Obdach finden. Doch die sind rar. Zwar hat die Ausländerbehörde seit Februar 138 Verpflichtungserklärungen ausgestellt: vielfach an Verwandte von Erdbebenopfern. Sie sichern darin zu, für die Dauer des Aufenthaltes die Kosten des Lebensunterhaltes ihres Gastes zu tragen. „Die Visa-Anträge werden in der Türkei aber kaum bearbeitet und versanden. Ich schätze, dass in Bochum weniger als zehn Besuche zustande gekommen sind“, sagt Serdar Yüksel.

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Gebot der Stunde sei nach wie vor die direkte Hilfe. Nach den ersten – sehr erfolgreichen – Sammlungen von Sachspenden wird inzwischen ausschließlich zu Geldspenden aufgerufen. Die Alevitische Gemeinde in Bochum will damit vornehmlich Wohncontainer finanzieren, sagt Vorstandsmitglied Kemal Güler (Infos auf alevi-bochum.de). Der Verein „Das Kollektiv“ möchte Kleidung und Nahrungsmittel für die Bewohner von Sammelunterkünften in der Stadt Kayseri anschaffen ​(Infos auf das-kollektiv.eu). Vorteil: Alle Hilfsgüter können vor Ort bezogen und von Partnerorganisationen zuverlässig ausgegeben werden.

Schrecken verbreiten bis heute die Trümmerlandschaften in den Katastrophengebieten in der Türkei, hier in Antakya. Der Bochumer SPD-Politiker Serdar Yüksel rechnet mit mehr als 200.000 Toten.
Schrecken verbreiten bis heute die Trümmerlandschaften in den Katastrophengebieten in der Türkei, hier in Antakya. Der Bochumer SPD-Politiker Serdar Yüksel rechnet mit mehr als 200.000 Toten. © dpa | Boris Roessler

100-Euro-Patenschaften helfen Schülern und Studierenden

Einen anderen Weg geht die „West-Ost-Brücke“. Vor zwei Jahren war der Verein in Bochum gegründet worden. Ziel: Bildungsprojekte für Flüchtlingen im Nahen Osten einzurichten. Kurz nach dem Erdbeben rief Vorsitzender Dr. Abdullah Incekan zu Patenschaften auf. 16 Bochumerinnen und Bochumer haben sich bisher bereiterklärt, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, die bei der Katastrophe ihre Eltern verloren haben, für mindestens ein halbes Jahr mit monatlich 100 Euro zu unterstützen.

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„Wir hoffen noch auf weitere Spenden und damit Patenschaften“, sagt Abdullah Incekan. „Der Bedarf in den Katastrophengebieten ist riesig. Und die Angst der Menschen ist groß, vergessen zu werden. Schon jetzt ist die Spendenbereitschaft überall deutlich gesunken.“ (Infos auf west-ost-bruecke.de)

Auch dank der Einnahmen eines Benefiz-Konzertes im März in der Bochumer Christuskirche können Hilfsorganisationen die Opfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien unterstützen.
Auch dank der Einnahmen eines Benefiz-Konzertes im März in der Bochumer Christuskirche können Hilfsorganisationen die Opfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien unterstützen. © Werner Wiegand

Yüksel hat eine Idee für Europa – und wartet auf Antwort

Patenschaften hat auch Serdar Yüksel im Sinn – wenn auch auf kontinentaler Ebene. „Vom Erdbeben in der Türkei sind elf Provinzen betroffen“, sagt der 49-Jährige. „Ich schlage vor, dass elf europäische Länder – am besten die finanzstärksten – eine Patenschaft für jeweils eine Provinz übernehmen.“ So könne der Wiederaufbau gezielter gefördert und auf viele Schultern verteilt werden.

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